Knapp am Herz vorbei
nicht.
Heißt das vielleicht, wir sind Lügner?
Nein.
Möchtest du nicht, dass wir dir sagen, wenn du was falsch machst?
Doch.
Dafür sind große Brüder schließlich da, oder?
Nein. Ich meine, ja.
Na dann.
Ich bin kein Waschlappen. Bestimmt nicht.
Er nennt uns Lügner, sagt Groß zu Größer.
Schnapp ihn dir.
Groß springt auf Willie und packt seine Arme.
Hey, sagt Willie. Jetzt hört endlich auf.
Groß zieht Willie vom Gehsteig hoch. Er stemmt ihm ein Knie in den Rücken und zwingt ihn, gerade zu stehen. Dann schlägt Größer ihn auf den Mund. Na schön, sagt Willie sich, das war schlimm, das war schrecklich, aber wenigstens ist es vorbei.
Dann boxt Größer ihn auf die Nase.
Willie sackt zusammen. Seine Nase ist gebrochen.
Er liegt auf dem Gehsteig und sieht zu, wie sein Blut sich mit Schmutz vermischt und zu einer braunen Schmiere wird. Als er sicher ist, dass seine Brüder weg sind, rappelt er sich auf. Während er nach Hause stolpert, dreht der Gehsteig sich wie ein Karussell.
Mutter, die an der Spüle steht, dreht sich um und schlägt die Hände an die Wangen. Was ist denn passiert?
Nichts, sagt Willie. Ein paar Jungs im Park.
Schon seit der Geburt kennt er die heilige Regel von Irish Town: niemals petzen.
Mutter führt ihn zu einem Stuhl, presst ihm ein heißes Tuch auf den Mund, befühlt seine Nase. Er heult auf. Sie legt ihn aufs Sofa und beugt sich über ihn. Dein Hemd! Die Flecken krieg ich nie mehr raus! Hinter ihr lauern seine Brüder mit finsterem Blick. Es beeindruckt sie nicht, dass er nicht petzt. Es erbost sie, denn damit hat er ihnen einen neuen Grund versagt, ihn zu hassen.
Der Gehsteig dreht sich wie ein Karussell. Sutton schwankt. Er tastet in seiner Brusttasche nach dem weißen Umschlag. Sagt Bess, ich wollte nicht, ich konnte nicht –
Wie war das, Mr Sutton?
Sagt Bess –
Eine Treppe. Knapp zwei Meter entfernt. Sutton torkelt auf sie zu. Sein Bein streikt. Er merkt zu spät, dass er es nicht schafft.
Willie, sagt Knipser, alles in Ordnung, Mann?
Er stürzt nach vorn.
Oh verdammt! Mr Sutton!
Aus einem unerfindlichen Grund variieren die Übergriffe. Manchmal schlagen Willies Brüder ihm nur die Bücher aus der Hand und beschimpfen ihn. Dann wieder stecken sie ihn mit dem Kopf voran in eine Aschentonne. Oder sie kratzen und boxen ihn, bis er blutet.
Sie tun so, als hätte er sie beleidigt. Verbrechen begangen. Sie inszenieren kleine Pseudoprozesse. Ein Bruder hält Willie fest, während der andere die Anklage darlegt. Respektlosigkeit. Schwäche. Einschleimen bei Vater. Dann diskutieren sie. Sollen wir ihn bestrafen? Sollen wir ihn laufenlassen? Sie zwingen Willie, sich zu verteidigen. Eines Tages sagt Willie, sie sollen es einfach hinter sich bringen. Das Warten ist die eigentliche Tortur. Groß zuckt die Schultern, stellt sich hin und lässt die Hüften kreisen, um möglichst viel Schwung zu bekommen. Die gerade Rechte landet mit einem lauten Schlag in Willies Bauch. Willie spürt die Luft aus sich entweichen wie bei dem Blasebalg in Vaters Schmiede. Er sinkt auf die Knie.
Als Willie zehn ist, versucht er sich zu wehren. Keine gute Idee. Die Prügel eskalieren. Die Brüder werfen Willie auf den Boden und treten ihn mit ihren harten Schuhen in die Lenden, Rippen, Nieren. Einmal treten sie ihm so fest gegen den Hinterkopf, dass er eine Woche lang Nasenbluten hat. Ein andermal verdrehen sie ihm den Kopf, bis er ohnmächtig wird.
Seine Eltern wissen nichts davon. Sie wollen nichts wissen. Vater denkt nach einem Zwölfstundentag nur noch an das Abendessen und an sein Bett. Und selbst wenn er Bescheid wüsste, würde er nichts sagen. Jungs sind Jungs. Früher hat Willie Vaters Schweigen bewundert. Jetzt verübelt er es ihm. Er hält Vater nicht mehr für einen Helden. Als er das letzte Mal mit in die Schmiede geht, sieht er alles anders. Bei jedem gedankenlosen Hammerschlag, jedem metallischen Klirren schwört Willie, nie wie Vater zu sein, auch wenn er befürchtet, dass er genau das sein wird, unausweichlich. Er hegt den Verdacht, dass in ihm dieselbe Fähigkeit zu ewigem Schweigen schlummert.
Und Mutter? Sie sieht nur ihren Kummer. Drei Jahre nach Agnes’ Tod trägt sie immer noch Schwarz, brütet immer noch über der Bibel, liest laut und befragt Jesus. Oder sie sitzt einfach mit der offenen Bibel auf dem Schoß da und starrt murmelnd vor sich hin. Es ist ein trauriges, stummes, blindes Haus, aber dennoch Willies einzige Zuflucht, der einzige
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