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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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ist ein Dieb, aber er ist nicht zart. Er ist ein Rowdy. Und die Jugend ist eine kleine alte Dame, die mit einer Handtasche voller Geld im Park spazieren geht. Ihr wollt nicht wie die Jugend sein? Ihr wollt vermeiden, dass die Zeit euch beraubt? Dann haltet alles gut fest. Wenn die Zeit euch was klauen will, packt noch fester zu. Lasst nicht los. Das ist die Erinnerung. Nicht loslassen. Die Zeit zum Teufel schicken.
    Knipser räuspert sich. Ähm, Willie?
    Sutton blickt auf. Ja, Kleiner.
    Willie, das bringt es irgendwie nicht – kreativ gesehen. Sie, an der Stelle Ihrer ehemaligen Schule? Das ist nichts, Mann.
    Nichts?
    Nein. Außerdem machen Sie uns wahnsinnig.
    Warum, Kleiner?
    Na ja. Sie führen Selbstgespräche. Und Sie klingen verwirrt. Verglichen mit Ihnen waren die meisten Jungs, die mir in Woodstock begegnet sind, ziemlich aufgeräumt.
    Tut mir leid, Kleiner. Ich erinnere mich doch nur.
    Schreiber tritt einen Schritt vor. Mr Sutton, vielleicht könnten Sie uns einiges von dem erzählen, woran Sie sich erinnern. Etwas aus Ihrem früheren Leben. Ihrer Kindheit.
    Ich erinnere mich an nicht viel.
    Aber eben meinten Sie …
    Gut, sagt Sutton. Gehen wir. Halt Nummer drei – Hudson Street. 
    Knipser hilft Sutton auf die Beine. Willie, könnten Sie uns wenigstens den Grund für Halt Nummer zwei sagen?
    Die Jugend.
    Die Jugend?
    Ja. Die Jugend.
    Was ist mit der Jugend, Willie?
    Sie fordert ihr verdammtes Schicksal selbst heraus.
     
    In Irish Town gibt es keine Sportplätze. Keine Spielplätze, keine Turnhallen, keine Freizeitzentren. Deshalb treffen sich die Jungen aus dem Viertel alle am Schlachthaus in der Hudson Street. In ihren kurzen Hosen und Unterhemden, ihren kragenlosen Hemden und zerfetzten Schuhen hängen sie bei den Ladedocks herum, betteln um Hufe und Füße, piesacken die Tiere auf ihrem Weg in den Tod.
    Kein Junge mag das Schlachthaus lieber als Eddie. Nur Eddie feuert die Schlachter an. Wenn es Tauschkarten von Schlachtern gäbe, würde Eddie sie sammeln. Er jubelt, wenn sie einem Schwein den Hals aufschlitzen, er lacht, wenn sie einer Kuh ins Auge stechen oder einem Schaf den Kopf abhacken. Er schaut bewundernd zu, wenn sie einen Becher in das rohe Blut zu ihren Füßen stippen und es dann trinken.
    1914 jedoch beobachtet Eddie im Schlachthaus eine Szene, die ihn verfolgt. Ein schwarzer kastrierter Schafsbock führt die anderen Schafe die Rampe hoch zum Tötungsbereich. In letzter Minute macht das schwarze Schaf einen kleinen schlauen Schritt zur Seite und rettet sich.
    Was ist denn mit dem Schaf da los?, fragt Eddie.
    Das ist das Judas-Schaf, sagt ein Schlachter. Genau genommen ist es eine Ziege, die wie ein Schaf aussieht.
    Sutty, guck dir das verschissene Schaf an. Legt einfach seine Freunde rein.
    Es ist doch bloß ein Schaf, Ed. Oder eine Ziege.
    Ed boxt sich auf den Handteller. Nee, nee, das Schaf weiß genau, was es tut. So ein Verräter.
    Ein paar Tage später scheucht Eddie Willie und Happy nachts aus ihren Betten und schleppt sie zum Schlachthaus. Er hebelt das Schloss an der Tür zum Verladedeck auf und führt sie in die dreckigen Pferche, wo die Flussfrachter die Tiere entladen. In einer hinteren Ecke entdecken sie das schwarze Judas-Schaf, es liegt auf der Seite. Der Schlaf des Unschuldigen, sagt Eddie, schnappt sich eine Latte und versetzt dem Schaf einen Schlag auf den Kopf. Blut spritzt überallhin. Es spritzt in Willies Augen und vorn auf Happys weißes Hemd. Das Schaf rappelt sich auf und will davonrennen. Eddie jagt hinterher. Komm her, du. Er schwingt die Latte wie einen Baseballschläger, haut das Schaf auf den Hintern. Wo willst du hin, he? Er versetzt dem Schaf noch einen Hieb und noch einen. Als es am Boden liegt, springt Eddie drauf und legt einen Stauschlauch um den flauschigen Hals. Happy hält die strampelnden Beine, während Eddie den Schlauch immer fester zuzieht.
    Sutty, nimm die Latte und verpass ihm eine.
    Nein.
    Willie könnte einem wehrlosen Tier nie etwas tun. Auch keinem Tier, das andere Tiere verrät. Außerdem erinnert es ihn an seine Brüder, wie Eddie und Happy das Judas-Schaf nach unten drücken.
Ich suche meine Brüder; sage mir doch, wo sie hüten.
Willie bleibt auf Abstand, auch wenn er nicht wegschaut. Er kann nicht. Er sieht zu, wie Eddie und Happy das Schaf quälen, sieht zu, wie Eddie ein Messer herauszieht und zusticht und zusticht, bis aus dem rasenden
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ein klägliches
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wird. Eddie und Happy sind seine besten Freunde, aber vielleicht hat

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