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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Wohnzimmerfenster, dessen Vorhänge Kartoffelsäcke sind, und hält einen ewigen Monolog. Es kümmert ihn nicht, dass Willie als Einziger zuhört. Vielleicht weiß er es auch nicht. Ein paar Jahre vor Willies Geburt arbeitete Daddo in einem Lagerhaus, und ein Säurestrahl spritzte ihm in die Augen. Die Welt wurde finster. Das Schlimme war, sagt er oft, dass er seine Arbeit verlor. Jetzt sitzt er nur noch da und quatscht, das ist alles, was er kann.
    Am häufigsten redet er über Politik, Sachen, die Willies Verstand übersteigen. Aber manchmal erzählt er spaßige Geschichten, um seinem Enkel ein Lachen zu entlocken. Geschichten von Meerjungfrauen und Hexen – und kleinen Männchen. Daddo zufolge wimmelt es in Irland nur so davon.
    Was machen die kleinen Männchen, Daddo?
    Sie stehlen, Willie Boy.
    Und was stehlen sie?
    Schafe, Schweine, Gold, alles, was sie in ihre schmierigen Finger kriegen. Aber keiner nimmt es ihnen übel. Sie haben einfach nur Unfug im Kopf. Schlechte kleine Schauspieler.
     
    Erinnern Sie sich noch an die Stelle, wo Sie geboren wurden, Mr Sutton?
    Sutton zeigt auf ein hellbraunes Backsteingebäude, eine Art Gemeindezentrum. Sag ihnen, Willie Boy war – hier.
    Hatten Sie eine glückliche Kindheit, Mr Sutton?
    Ja. Klar.
    Knipser macht eine Nahaufnahme von Sutton, mit dem Brooklyn-Queens Expressway hinter seinem Kopf. Die Schnellstraße wurde gebaut, während Sutton im Gefängnis saß. Gütiger Himmel, was für ein Ungetüm, sagt Sutton. Ich hätte nicht gedacht, dass sie Brooklyn noch hässlicher machen könnten. Ich hab sie unterschätzt.
    Toll, sagt Knipser. Ja, Mann, genau hier. Das ist morgen auf Seite eins.
     
    Willies zwei ältere Brüder hassen ihn. Solange er zurückdenken kann, ist das so gewesen, eine unveränderliche Tatsache. So wie die Sonne über Williamsburg aufgeht und über Fulton Ferry untergeht, wünschen sich seine Brüder, er wäre tot.
    Liegt es daran, dass er der Jüngste ist? Dass er William
junior
ist? Dass er so viel Zeit bei Vater in der Schmiede verbringt? Willie weiß es nicht. Was immer der Grund sein mag – Rivalität, Eifersucht, Bosheit –, die Brüder sind so vereint gegen ihn, stellen eine so nahtlose zweiköpfige Bedrohung dar, dass Willie sie nicht auseinanderhalten kann. Und es auch gar nicht will. Für ihn sind sie nur Groß und Größer.
    Willie, acht Jahre alt, spielt Jacks mit seinen Freunden auf dem Gehsteig. Wie aus dem Nichts erscheinen seine beiden Brüder. Willie blickt hoch. Beide Brüder halten Eiscreme-Sodas in der Hand. Die Sonne steht zwischen ihren beiden großen Köpfen.
    So scheißklein, sagt Groß und schaut Willie böse an.
    Ja, sagt Größer und kichert. Scheißzwerg.
    Willies Freunde ergreifen die Flucht. Willie starrt auf die Sternchen und den kleinen roten Ball. Seine Brüder treten einen Schritt näher, ragen vor ihm auf wie Bäume. Bäume, die hassen.
    Dein Bruder zu sein ist richtig peinlich, sagt Größer zu Willie.
    Pack dir endlich ein paar Pfund auf die Rippen, sagt Groß. Und sei nicht immer so ein Waschlappen.
    In Ordnung, sagt Willie. Ich bemüh mich.
    Die Brüder lachen. Wo sind denn deine Freunde abgeblieben, Willie Boy?
    Sie hatten Angst vor euch.
    Die Brüder gießen Willie ihre Eiscreme-Sodas über den Kopf und gehen weg. Sie hatten Angst vor euch, sagen sie und ahmen dabei Willies kleinlaute Stimme nach.
    Bei einer anderen Gelegenheit machen sie sich über Willies große Nase lustig. Dann wieder über die rote Verdickung auf seinem Augenlid. Sie achten immer darauf, ihn auf der Straße zu ärgern, wenn keine Erwachsenen in der Nähe sind. Sie sind so hinterhältig wie herzlos und erinnern Willie an die Wölfe in einem seiner Bilderbücher.
    Als Willie neun ist, halten seine Brüder ihn auf dem Heimweg von der Schule an. Mit verschränkten Armen verstellen sie ihm den Weg. Etwas an ihren Gesichtern und ihrer Körpersprache sagt Willie, dass es diesmal anders wird. Er weiß, dass er sich immer an das intensive Himmelsblau erinnern wird, das violette Unkraut auf dem Gelände zu seiner Linken, das Muster der Risse im Gehsteig, als Groß ihm einen Stoß versetzt und er hinfällt.
    Willie windet sich auf dem Gehsteig und sieht hoch. Groß grinst Größer hämisch an. Was sollen wir mit ihm machen?
    Was wohl? Wir haben ihn an der Backe.
    Haben wir nicht gesagt, du sollst nicht immer so ein Waschlappen sein, sagt Groß zu Willie.
    Willie liegt auf dem Rücken, ihm steigen Tränen in die Augen. Bin ich doch gar

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