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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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rußigen Fenster und dreckigen Straßen schweifen. Selbst wenn man Irish Town verlässt, entkommt man ihm nicht.
     
    Wir sollten den Brooklyn-Queens Expressway nehmen, sagt Knipser.
    Nein, sagt Schreiber, keine Tunnels, wir fahren oben.
    Warum?
    Häuser, Geschäfte oder Statuen helfen Mr Suttons Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge.
    Während Schreiber und Knipser über die beste Route zum nächsten Halt diskutieren, Thirteenth Street, schließt Sutton die Augen. Plötzlich hält das Auto abrupt an. Er öffnet die Augen. Eine rote Ampel.
    Er dreht den Kopf nach rechts. Baufällige Geschäfte, für ihn neu, unbekannt. Ist das wirklich Brooklyn? Es könnte ebenso gut Bangkok sein. Wo früher ein Bar-Grill-Restaurant war, ist jetzt ein Plattenladen. Wo früher ein Plattenladen war, ist jetzt ein Bekleidungsgeschäft. So viele Nächte lag Sutton in seiner Zelle und ging in Gedanken durch das alte Brooklyn. Jetzt ist es verschwunden, völlig verschwunden. Die alte Wohngegend war nur eine Pappkulisse, ein Bühnenbild, beiläufig abgebaut und weggekarrt. Eines allerdings hat sich nicht geändert. Keines der Geschäfte stellt anscheinend Personal ein.
    Was ist los, Mr Sutton?
    Nichts.
    Sutton sieht ein Elektrogeschäft. Im Schaufenster stehen jede Menge Fernsehapparate.
    Halt mal an, halt an.
    Knipser schaut nach links, nach rechts. Wir halten doch schon. Wir stehen an einer roten Ampel, Willie.
    Sutton öffnet die Tür. Auf dem Gehsteig liegt gefrorener Schnee. Vorsichtig geht er in Richtung Elektrogeschäft. Auf jedem Fernseher ist – Willie Sutton. Gestern Abend. Wie er Attica verlässt. Aber er ist es auch nicht. Das ist Vater. Und Mutter. Ihm war nie bewusst, wie sehr er den beiden inzwischen ähnelt.
    Sutton presst die Nase gegen die Scheibe, wölbt die Hände um die Augen. Auf ein paar Bildschirmen vorne im Fenster ist Präsident Nixon zu sehen. Eine aktuelle Pressekonferenz.
    Schreiber tritt zu ihm.
    Ist dir schon mal aufgefallen, Kleiner, dass Präsidenten Ähnlichkeit mit Gefängnisleitern haben?
    Kann ich nicht behaupten, Mr Sutton.
    Glaub mir. Es stimmt.
    Haben Sie jemals gewählt, Mr Sutton?
    Jeder meiner Banküberfälle war ein Votum.
    Schreiber notiert sich die Antwort.
    Ich will dir eins sagen, sagt Sutton. Ich hätte liebend gern gegen Präsident Flatterauge gestimmt. Verdammter Gangster.
    Schreiber lacht. Ich bin kein Nixon-Fan, Mr Sutton, aber ein Gangster?
    Erinnert er dich nicht an jemanden, Kleiner?
    Nein. Sollte er?
    Die Augen. Sieh dir die Augen an.
    Schreiber tritt näher ans Schaufenster, sieht Nixon an, dann wieder Sutton. Zurück zu Nixon. Jetzt, wo Sie’s sagen.
    Ich würde keinem von uns beiden über den Weg trauen, sagt Sutton. Wusstest du, dass Nixon, als er in der Wall Street beschäftigt war, im selben Wohnblock wie Rockefeller lebte?
    Ich bin eigentlich kein Rockefeller-Fan.
    Willkommen im Club!
    Ich persönlich mochte Romney. Nach seinem Ausscheiden war ich für Reagan. Ich wollte unbedingt, dass er die Nominierung gewinnt. 
    Reagan? Gott steh uns bei.
    Was stimmt nicht mit Reagan?
    Ein Schauspieler, der die Welt regiert? Jetzt mach mal halblang.
     
    Wenn der Fluss zum Schwimmen zu kalt ist, gehen die Jungen mit ihren Angelruten nach Red Hook. Für zwei Cent pro Stück kaufen sie sich in Wachspapier eingewickelte Tomatensandwiches, setzen sich dann auf die Felsen entlang den Narrows und lassen ihre Schnüre im schlickigen Wasser baumeln. Auch ohne Arbeit können sie mit einem oder zwei Streifenbarschen zum Unterhalt ihrer Familien beitragen.
    Eines Tages, als die Fische nicht anbeißen, geht Eddie unruhig auf den Felsen hin und her. Die verarschen uns doch alle, sagt er.
    Wer die, Ed?
    Na die, eben alle.
    Hinter ihm wühlt sich ein Schlepper durch das silbrig grüne Wasser, ein Frachtkahn gleitet nach Manhattan. Ein Dreimastschoner strebt auf Staten Island zu. Der Himmel ist ein chaotisches Netz aus Kabeln und Schornsteinen, Kirchturmspitzen und Bürotürmen. Eddie beäugt alles böse. Dann zeigt er den Mittelfinger.
    Eddie ist schon immer wütend gewesen, doch in letzter Zeit ist seine Wut größer, gereizter. Willie gibt sich dafür die Schuld. Er hat Eddie mit in die Bibliothek genommen und ihn überredet, sich einen Leseausweis zu besorgen. Jetzt liest Eddie Bücher, die seine schlimmsten Ahnungen bestätigen. Jack London, Upton Sinclair, Peter Kropotkin, Karl Marx – sie alle sagen Eddie, dass er nicht paranoid, dass die Welt wirklich gegen ihn ist.
    Ein

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