Knapp am Herz vorbei
deine beste Eigenschaft?
Mein Gedächtnis. Wenn ich ein Gedicht einmal lese, kann ich es auswendig. Hast du ein gutes Gedächtnis?
Diesen Tag werde ich jedenfalls nicht vergessen, denkt er. Ich kann mir schlecht Namen merken, sagt er.
Die meisten sind es auch nicht wert, dass man sie behält.
Was ist dein größter Fehler?
Ich kann nicht stillsitzen. Deiner?
Ich komme aus Irish Town.
Er erzählt ihr von Vaters schlecht laufendem Geschäft, Mutters endlosem Kummer, seiner vergeblichen Arbeitssuche. Er überrascht sie und sich selbst, mit welcher Offenheit er alles erzählt. In seinem ganzen Leben wird er kein Geständnis mehr ablegen, das so ausführlich ist.
Er bringt sie durch den Park nach Hause. An einer dunklen abgelegenen Stelle lehnt sie sich an einen Baum, packt seine Krawatte und zieht ihn an sich. Er legt eine Hand an den Baum, die andere auf ihre Wange. Die kratzige Rauheit der Rinde, die cremige Weichheit ihrer Haut – auch das wird er nie vergessen. Sie küssen sich.
Sie erzählt ihm, dass sie noch Jungfrau ist, falls er sich das fragen sollte.
Das würde ich mich nie fragen, flüstert er.
Was? Das interessiert dich nicht? Anscheinend bin ich doch nicht so attraktiv, wie die Leute immer sagen.
Sie pikst ihn in die Rippen, damit er weiß, sie scherzt nur. Aber eigentlich scherzt sie nicht.
Bei ihrer zweiten Verabredung an derselben abgelegenen Stelle nimmt sie Willies Hand und schiebt sie in ihr Kleid. Sie führt die Hand über ihre Brust und weiter nach unten. Er spürt ihr junges Herz, das wie eine neue Uhr tickt. Es wird ewig schlagen.
Er nimmt die Hand weg, hält sich zurück und sie. Nein, Bess. Nein.
Warum nicht?
Weil es nicht richtig ist.
Wer entscheidet, was richtig ist?
Darauf weiß er keine Antwort. Trotzdem bleibt er standhaft.
Jedes Treffen endet an diesem toten Punkt, bis ihre Beziehung eine Art Burleske wird. Nach ein oder zwei Stunden auf Coney Island oder im Drugstore gehen sie lange spazieren und landen irgendwann an einer versteckten Stelle im Park. Bess öffnet einen Knopf oder zwei und führt Willies Hand oder fasst ihm zwischen die Beine. Willie hält sie auf und sagt, es sei nicht richtig. Sie reagiert gekränkt, aber Willie glaubt, insgeheim bewundert sie seine Zurückhaltung. Dann sagen sie sich gute Nacht, beide erhitzt, verwirrt und schmachtend.
Eddie und Happy sind empört. Eddie glaubt, Willie hat den Verstand verloren oder seine Männlichkeit. Happy schimpft ihn einen undankbaren Kerl. Happy hat Willie großzügigerweise Bess überlassen – so lautet der Mythos zwischen ihnen. Und wenn Willie Bess’ Reize verkümmern lässt, sagt Happy im Scherz, holt er sie sich eben wieder zurück.
Aber wenn ihm Bess geschenkt wurde, denkt Willie, dann von Gott. Durch göttliche Gnade – eine andere Erklärung fällt ihm nicht ein – ist Bess Endner seine Liebste, und Willie möchte nicht, dass Gott ihn für undankbar hält. Deshalb verhält er sich so, wie Gott es möchte. So wie ein Held in einem Alger-Roman.
Obwohl es ihm gegen den Strich geht und obwohl es seine besten Freunde entsetzt, zahlt sich seine standhafte Ritterlichkeit aus. Nach mehreren Wochen bleibt Bess an ihrem Lieblingsbaum stehen und legt ihr Gesicht an Willies Brust. Hoffentlich bist du jetzt zufrieden, Willie Sutton. Ich hab mich in dich verliebt.
Tatsächlich?
Ja.
Ehrlich?
Ehrlich, wie verrückt. Du bist mein größter Schatz.
Warum, Bess?
Willie! Was für eine Frage.
Nein, im Ernst. Ich meine, ich bin zäh, aber ich bin kein Eddie. Ich seh nicht schlecht aus, aber ich bin kein Happy. Warum also ich?
Na gut, meint sie. Ich will es dir sagen, Willie. Ich liebe dich, weil du mich ansiehst, wie jedes Mädchen angesehen werden möchte, obwohl ich vermute, dass die wenigsten Mädchen diese Intensität aushalten würden. Diesen prüfenden Blick. Du siehst mich an, als wolltest du mich verschlingen, als wolltest du mich entführen, auf einer einsamen Insel gefangen halten und Statuen nach meinem Bild schnitzen.
Willie lacht schuldbewusst.
Du siehst mich an, als wolltest du mich glücklich machen, als könntest du erst glücklich sein, wenn ich es bin. Das ist aufregend. Beängstigend. Genau das, was ich für den Rest meines Lebens will. Das Einzige, was ich will.
Mehr nicht?
Das Leben ist kompliziert, Willie, die Liebe nicht. Meine Freundinnen überschlagen sich für Jungen, die sich hübsch anziehen oder gut tanzen oder aus guten Familien stammen. Die kommen schon noch auf den
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