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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Kosten.
    Willie nimmt seine Mütze ab. Wenn das Ihre Meinung ist, Sir.
    Ja, ist es.
    Willie steht auf und geht zur Tür. Auf Wiedersehen, Funck. Ich hoffe nur, die Gattin macht nicht allzu viel Ärger.
    Auf Wiedersehen … Moment mal. Warum Ärger?
    Wenn ich ihr ein Telegramm schicke und ihr von unserer Unterhaltung über Chapin berichte. Wenn ich ihr erzähle, dass ihr Mann es für eine prima Idee hält, eine Frau im Schlaf wegzupusten.
    Funck wird so rot wie ein Weihnachtsstern. Das würden Sie nie tun.
    Willie lehnt sich an die mattierte Glasscheibe. Wirklich nicht?
    Sie wird Ihnen nicht glauben.
    Wahrscheinlich nicht. Sie scheint eine sehr nette Frau zu sein.
     
    Er lacht, sagt Knipser zu Schreiber. Er steht einfach mitten auf der Madison Avenue und lacht.
    Mr Sutton, warum lachen Sie? Und seien Sie bitte vorsichtig – da kommen Autos.
    Mir ist gerade eingefallen, wie ich den Chef dazu gebracht habe, mich fest einzustellen. Endlich hat sich das Blatt für Willie gewendet. Eine Arbeit, die ich mochte. Eine Arbeit, die ich gut konnte. Geld in der Tasche. Ich kam langsam wieder in Form, legte Gewicht zu, und an meinem freien Tag war ich stundenlang in der Bibliothek und las. Was für ein Segen.
    Was haben Sie gelesen?
    Alles.
    Knipser hält die Karte gegen den Wind. Oh Mann, verdammt, ist unser nächster Halt deswegen die – Bibliothek. Im Ernst? Willie – wir fahren zur Bibliothek?
     
    Bei der ersten Gelegenheit besorgt Willie sich Zeitungen, Zeitschriften, Wirtschaftsblätter – alles, was er in der Bibliothek über Mr Untermyer finden kann. Was er herausfindet, schockiert ihn. Willie und Eddie hielten sich wegen ihres Bankeinbruchs immer für ziemlich schlau, aber Mr Untermyer geht viel weiter: Er zerschlägt Banken. Als Sonderstaatsanwalt wurde Mr Untermyer zum größten Bankensprenger, zur Geißel für die berüchtigsten Räuberbaron Amerikas. Während spannungsvoller Anhörungen vor dem Senat der Vereinigten Staaten, die das ganze Land fesselten, rief Mr Untermyer, eine frische Orchidee aus Greystone im Revers, einen Banker nach dem anderen in den Zeugenstand und entlarvte ihn als Verschwörer, Lügner und Dieb.
    Über eine Zeitspanne von mehreren Jahren hinweg hatten die Banker mittels eines heimlichen Geldtrusts das Finanzsystem an sich gerissen, sich gegenseitig in die Gremien ihrer diversen Banken und Unternehmen ernannt und sie im Wesentlichen zu einer heimlichen Superbank fusioniert. Mr Untermyer besaß die Dreistigkeit, diese Gaunerei aufzudecken und die Täter, die zufällig die reichsten Männer Amerikas waren – darunter J. P. Morgan und einer der Rockefellers –, öffentlich zu verhören. Was J. P. Morgan als noch dreister empfand als das Verhör, war die Tatsache, dass Untermyer Jude war.
    Die Anhörungen endeten nicht mit einer strafrechtlichen Anklage, aber sie ruinierten Morgans Gesundheit. Erschüttert und gedemütigt, floh er nach Europa. Wochen später hauchte er in einer noblen Hotelsuite in Rom seinen Geist aus. Seine Erben und Partner schoben Mr Untermyer unverblümt die Schuld zu. Mr Untermyer nahm die Schuld nie an, stritt sie aber auch nie ab.
    Sobald Willie Mr Untermyer in Greystone sieht, versucht er, Blickkontakt mit ihm herzustellen. Manchmal kommt Mr Untermyer vorbei und plaudert mit ihm. Willie kann nicht fassen, dass ein so wichtiger Mann, ein Mann, der Morgans zu Fall bringt und Rockefellers blamiert, sich Zeit für ihn nimmt. Aber Mr Untermyer scheint sich in Willies Gesellschaft zu amüsieren, seine Geschichten über Irish Town, Sing Sing, Dannemora und Eddie faszinieren ihn. Und wenn Willie die wahren Geschichten ausgehen, erfindet er welche. Inmitten einer solchen Geschichte nimmt Untermyers Gesicht plötzlich einen missmutigen Ausdruck an.
    Willie, sagt er, ich glaube, Sie sind ein moderner Seanchaí.
    Willie, der im Schatten des Tempels der Liebe kniet und Rittersporn pflanzt, blickt zu ihm auf.
    Mein Großvater hat immer von den Seanchaí erzählt, Sir.
    Das glaube ich gern. Ihr Großvater kam natürlich aus Irland.
    Ja, Sir.
    In Irland galt der Seanchaí als Heiliger. Er ließ lange Abende kürzer werden. Und es war ihm nicht immer wichtig, ob seine Geschichten der Wahrheit entsprachen.
    Ist das schlimm?
    Nicht unbedingt. Die Wahrheit hat ihren Platz. Zumindest in einem Gerichtssaal. Einem Sitzungszimmer. Aber in einer Geschichte? Ich weiß nicht. Ich glaube, die Wahrheit liegt im Zuhörer. Die Wahrheit ist etwas, das der Zuhörer einer

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