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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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LÄSST GATTEN VERHAFTEN
    Das Licht der Messinglampe verschwimmt. Willies Blickrichtung verengt sich. Er hält die Zeitung näher ans Gesicht, liest, so schnell er kann, aber die Worte ergeben keinen Sinn. Er muss den ersten Absatz viermal lesen, bis er ihn kapiert.
    Bessie Endner steckt erneut in Schwierigkeiten. Sie erklärt einem Richter, dass ihr Mann sie misshandelt und bedroht hat …
    Als Nächstes folgt der Standardverweis auf ihre kriminelle Vergangenheit.
Die hübsche junge Frau, die ihre Freunde und die Öffentlichkeit verblüffte, als sie mit …
    Dann ein bisschen Reportersarkasmus.
Sie erzählt einem Richter, kurz nach ihrer Hochzeit habe sie feststellen müssen, dass das Eheleben kein Rosengarten sei, sondern ein dorniges Gestrüpp.
    Schließlich erwähnt die Zeitung ihre neue Adresse, wo sie sich angeblich vor ihrem handgreiflichen Mann versteckt – 15 Scoville Walk, Coney Island.
    Willie schwankt nach Hause in seine Absteige. Er nimmt eine lauwarme Dusche, etwas anderes ist in dem Gemeinschaftsbadezimmer des schäbigen Hotels nicht möglich, und rasiert sich sorgfältig. Er kämmt sich Öl ins Haar, betupft die Wangen mit Lavendelwasser, zieht seinen Gefängnisanzug an und geht zur U-Bahn nach Coney Island.
    Beim Aussteigen merkt er, dass er ein Nervenbündel ist. Er ist zu emotional, zu aufgeregt, um Bess jetzt zu sehen. In seinem Zustand würde er ihr nur Angst machen. Er geht am Strand auf und ab, atmet die Seeluft in tiefen Zügen ein. Am Luna Park bleibt er stehen und erlebt in Gedanken noch einmal den Abend vor zehn Jahren. Mit Eddie und Happy. Freundin eins und zwei. Er verweilt unter dem großen herzförmigen Schild am Eingang. THE HEART OF CONEY ISLAND . Über dem Meer geht langsam der Mond auf.
    Willie schlendert zum nagelneuen Half Moon Hotel am anderen Ende von Coney Island, dessen goldene Kuppel in der Dämmerung schimmert. Er setzt sich in die Lobby, beobachtet das Kommen und Gehen: Die meisten Gäste scheinen auf Hochzeitsreise zu sein. Arm in Arm bummeln sie durch die Halle, gehen auf ihre Zimmer oder nach draußen zum Strand. Er hält es nicht aus, flieht aus dem Hotel und geht so lange, bis er eine dunkle Spelunke findet. Zwei Whiskey, peng peng, jetzt ist er so weit. Er eilt die Mermaid Avenue hoch, biegt rechts in die Twenty-Fourth, links in die Surf, dann Scoville zur Nummer  15 . Ein salzverflecktes Sommerhaus. Der Wind frischt auf und bläst ihm Sand in die Augen. Er schaut wieder zum Mond. In der Bibliothek hat er in einem Artikel gelesen, dass auf dem Mond kein Wind weht.
    Er klopft an die Fliegengittertür.
    Keine Antwort.
    Er öffnet die Fliegengittertür und klopft an die Haustür.
    Keine Antwort.
    Er schließt die Fliegengittertür und tritt zurück, dreht sich um und geht langsam den Scoville Walk hoch. An der Ecke hört er seinen Namen im Wind.
    Oh Willie.
    Er wirbelt herum. Sie ist fünfzehn Meter entfernt. Er geht einen Schritt auf sie zu, sie zwei auf ihn. Sie trägt ein leichtes Sommerkleid, figurbetont, wie eine Schwanzflosse. Sie sieht aus, als wäre sie auf dem Mond dem Meer entstiegen. Sie rennen aufeinander zu, treffen sich mitten auf der Straße. Willie spürt ihren straffen Körper unter dem dünnen Kleid – und wird von Verlangen überwältigt. Ihm war nicht klar, dass er ein solches Verlangen verspüren kann.
    Er setzt sie auf der Straße ab und sieht sie an.
    Ach Bess. Nein.
    Sie hat ein blaues Auge und blutige Lippen.
     
    Sutton berührt den Sockel des Löwen vor der Public Library und starrt zum Löwen auf der anderen Seite des Eingangs. Ich kann mir nie merken, welcher Geduld und welcher Standhaftigkeit heißt.
    Ich wusste nicht mal, dass sie Namen haben, sagt Knipser.
    Weißt du, wer ihnen die Namen gegeben hat, Kleiner? Bürgermeister LaGuardia. Während der Depression. Er meinte, genau das bräuchten die New Yorker, um die schweren Zeiten zu überstehen – Geduld und Standhaftigkeit.
    Knipser will Sutton vom Gehsteig aus fotografieren. Ein paar Touristen kommen ihm in die Quere. Sie sprechen so etwas wie Deutsch. Als sie sehen, dass Sutton fotografiert wird, halten sie ihn offenbar für eine Berühmtheit und holen ebenfalls ihre Kameras heraus. Schreiber und Knipser brüllen sie an, verscheuchen sie wie Tauben.
    Keine Bilder! Er gehört uns! Exklusiv!
    Sutton beobachtet, wie die Deutschen auseinanderstieben. Er lacht. Jetzt dreht er sich zu dem Löwen. Der alte Löwe, sagt er. Der Löwe kommt um, wenn er keine Beute hat.
    Haben Sie was

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