Knapp am Herz vorbei
gesagt, Willie?
Nein. War vermutlich der Löwe.
Mr Sutton, was ist hier passiert? Warum war das hier ein – wie haben Sie das genannt? Scheideweg?
Hier gingen Willie Geduld und Standhaftigkeit aus.
Sie schlendern am Meer entlang. Bess erzählt Willie, dass Eddie recht hatte, ihr Vater hat sie zu der Ehe gezwungen. Da er schwer verschuldet war und ihm die Schiffswerft zu entgleiten drohte, schaute er sich um und fand eine reiche Familie mit einem liederlichen Junggesellen.
Eine im Wirtschaftshimmel gestiftete Ehe, sagt Bess. Wenn Daddy mich mit einem Rockefeller hätte verheiraten können, hätte er es getan.
Sie hätte nein sagen können. Hätte es auch fast getan. Aber da die gesundheitlichen Probleme ihres Vaters nach dem Skandal mit Willie und Happy angefangen hatten, fühlte sie sich ihm gegenüber verpflichtet.
Sie ging ohne Illusionen in die Ehe. Braut und Bräutigam sind sich immer fremd, sagt sie, aber für mich war mein Mann in der Hochzeitsnacht im wahrsten Wortsinn ein Fremder. Trotzdem. Das Geschrei und die Schläge, damit hätte ich nie gerechnet.
Bess.
Ich dachte, es würde aufhören, sagt sie. Als ich schwanger wurde.
Schwanger?
Sie legt ihre Hand auf den Bauch. Es hat nicht aufgehört, sondern wurde noch schlimmer. Also ging ich zur Polizei. Dann kam ich hierher. Coney Island war immer etwas Besonderes für mich.
Für uns.
Sie streichelt seinen Arm. Glückliche Erinnerungen, sagt sie.
Sie setzen sich auf den Sand und beobachten das Mondlicht, das sich wie Milch übers Wasser ergießt.
Wie geht es den zwei anderen fröhlichen Anglern?, fragt sie.
Eddie ist noch in Dannemora. Happy wurde vor einer Weile aus Sing Sing entlassen, aber keiner hat ihn gesehen.
Alles meine Schuld, sagt Bess.
Ach was.
Sie unterhalten sich, bis der Wind kühler wird, dann kehren sie zum Haus zurück. Unterwegs erzählt Willie ihr von seiner Zeit in Sing Sing, dem Horror von Dannemora und seinem Job bei Funck.
Bess macht eine Dosensuppe heiß und öffnet eine Flasche geschmuggelten Wein. Willie zündet mit Treibholz und einem
Brooklyn Daily Eagle
ein Feuer an. Auf dem Sofa stehen ein offener Koffer und daneben eine Segeltuchtasche voller Bücher. Er sieht sie durch. Tennyson, sagt er. Immer noch?
Immer, sagt Bess. Wenn ich mal verliebt bin, dann für immer.
Er liest:
O möchte in mir doch ein Mann erstehn / Und der Mann, der ich bin, vergehn, vergehn!
Er legt das Buch hin, nimmt ein anderes. Ezra Pound?
Bess kommt zu ihm und schwenkt Wein in einem Glas. Sie reicht es Willie, schließt die Augen:
Du kamst aus der Nacht herein / Und Blumen waren in deinen Händen, / Nun kommst du aus einem Menschengewühl, / Aus einem Wust von Worten rings um dich.
Willie starrt auf das Buch. Ein Menschengewühl, sagt er.
Sie legen Kissen auf den Boden und setzen sich ans Feuer. Als die Glut zu Asche wird und die Uhr auf dem Kaminsims drei anzeigt, muss Willie gehen. In zwei Stunden muss er bei Funck sein. Bess begleitet ihn hinaus. Zitternd stehen sie da.
Lass uns zusammen weggehen, Bess.
Sie wirft den Kopf zurück. Wir wissen beide, das geht nicht.
Warum nicht?
Kein Geld.
Es gibt Orte, wo das keine Rolle spielt.
Orte, wo Geld keine Rolle spielt? Mach mir eine Liste.
Poughkeepsie.
Sie lächelt gequält. Die Familie meines Mannes ist mächtig. Sie würden dafür sorgen, dass deine Bewährung aufgehoben wird. Sie würden dich für immer einsperren lassen. Daran möchte ich nicht schuld sein. Ich hab schon genug Schaden in deinem Leben angerichtet.
Er schaut zum Himmel, versucht sich etwas auszudenken, das sie umstimmen kann. Er möchte seine Gefühle in Worte fassen. Sie unterbricht seine Gedanken, fährt ihm mit dem Finger über die Wange.
Willie holt einen Block und einen Bleistift aus seiner Brusttasche und schreibt ihr die Telefonnummer der Lobby in seiner Absteige auf. Heute Abend komm ich wieder und seh nach dir, sagt er. Bis dahin sei vorsichtig.
Ich würde mich sehr viel sicherer fühlen, wenn die Zeitung meine Adresse nicht gedruckt hätte.
Er nickt. Verdammte Presse, sagt er. Andererseits hätte ich dich nie gefunden, wenn sie deine Adresse nicht gedruckt hätten.
Bess küsst ihn auf die Wange, tritt dann zurück und richtet einen Pistolenfinger auf seine Brust.
Geld oder Leben?, fragt sie lächelnd.
Leben, Bess. Immer.
Ihr Lächeln weicht. Oh Willie.
Als Funcks Transporter am Abend aus Greystone zurückkommt, springt Willie ab und rennt zur U-Bahn. In seinem grauen Overall fährt
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