Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)
durchschnittliche Lücke zwischen den Ressourcen und den Wünschen. Selbst wenn es, wie im Falle der Straßenhändlerinnen, viele Tage mit Reserven gibt, sind es doch die Tage mit Knappheit, die zählen. Um von Knappheit befreit zu sein, genügt es nicht, im Schnitt mehr Ressourcen als Bedürfnisse zu haben. Es ist auch wichtig, genügend Reserven zu haben (oder über einen anderen Mechanismus zu verfügen), um größere Schocks abzufedern, die jeden in jedem Moment treffen können. Sozialforscher und ganz besonders Ökonomen haben schon vor einiger Zeit verstanden, mit welchem Gewicht die Ungewissheit ihre Forschungsergebnisse beeinflusst. Wir wissen, dass ungewisse Zinserträge Investitionen reduzieren können und dass unregelmäßige Einkommen zu Angst und Widerwillen führen. Wir wollen aber hier vor allem die Unsicherheit und Instabilität im Zusammenhang mit der Knappheit betrachten. Danach können Zeiten der Knappheit Verhaltensweisen hervorrufen, die uns schließlich in die Knappheitsfalle hineinziehen. Und mit Knappheitsfallen können aus Zeiten des Überflusses mit eingesprenkelten Momenten von Knappheit sehr schnell Zeiten immerwährender Knappheit werden.
Das heißt im Übrigen nicht, dass der einzige Weg zur Vermeidung von Knappheitsfallen darin besteht, genug Vermögen zu haben, um alle Schocks abzufedern. Es heißt nicht, dass für die Straßenhändlerinnen der einzige Weg zur Lösung ihrer Probleme ist, ihnen noch mehr Geld zu geben. Die Diskussion unterstreicht vielmehr die Notwendigkeit, Instrumente zu schaffen, die Schocks abpolstern. Hätte unsere Straßenhändlerin einen zinsgünstigen Kredit oder ein flüssiges Sparkonto, das nur für Notfälle angegriffen werden kann, würde ihr das die notwendigen Reserven für die Bewältigung solcher kritischen Momente geben. Auch die Versicherung gegen die eine oder andere Katastrophe würde das Problem lösen. Natürlich kennen viele die Segnungen solcher Puffer. Aber ihr guter Einfluss erscheint weit größer, als man bisher angenommen hat. Sie dienen nicht nur als Puffer für die Risiken des Geschäftslebens, sondern sind auch Bollwerke gegen die Gefahr, wieder in die Knappheitsfalle zu rutschen.
festgelage und hungerszeiten
Wir können natürlich die Straßenhändlerin dafür verantwortlich machen, dass sie nach dem erlittenen Schock wieder in die Knappheitsfalle tappte. Denn schließlich kannte sie ja ihre prekäre Lage. Warum hat sie nicht in besseren Zeiten als Vorsichtsmaßnahme Geld zurückgelegt? Natürlich sind die indischen Straßenhändlerinnen nicht allein für fehlende Reserven verantwortlich. Die Armen haben weltweit zu wenig flüssige Ersparnisse. Wie schon erwähnt, berichtet die Hälfte aller Amerikaner, sie könne angesichts von Notfällen nicht innerhalb von 30 Tagen 2 000 Dollar auftreiben. 12 Und die Daten zeigen, dass die Armen, die noch mehr Schocks ausgesetzt sind, dazu tendieren, noch weniger flüssige Ersparnisse zu haben.
Sieht man die Angelegenheit so an, hat das Problem der Straßenhändlerin schon lange vor dem Schock begonnen. Die Saat der Knappheitsfalle wurde schon zu Zeiten von zumindest relativem Überfluss gesät. Die gleiche Dynamik scheint auch bei Zeitproblemen zu herrschen. Sie arbeiten fieberhaft an der Fertigstellung eines Projekts. Sie stehen in Verzug, das Leben ist erbärmlich, und Sie schwören, so etwas nie wieder anzufangen. Nachdem die Deadline abgelaufen ist, tauchen Sie schließlich wieder auf. Die nächste Deadline ist Wochen entfernt. Gott sei Dank: Sie können sich erst einmal erholen. Ein paar Wochen später fragen Sie sich, wo die Zeit hin ist. Schon wieder müssen Sie verzweifelt gegen die Uhr kämpfen. Wie die Knappheit der Straßenhändlerin hat Ihre Knappheit ihren Ursprung in Fehlern, die Sie schon in Zeiten relativen Überflusses gemacht haben.
In diesen Zeiten verschwenden wir Zeit und Geld. Wir sind da nicht streng genug mit uns. In der Erntestudie in Kapitel 2 waren die Bauern vor der Ernte arm, aber das hätte nicht sein müssen. Wären sie nach der Ernte mit ihrem Geld besser umgegangen, hätten sie gegen Ende des Erntezyklus nicht Mangel leiden müssen. Sie waren vor der Ernte nur arm, weil sie ihre Finanzen in Zeiten, als die Kassen noch voll waren, nicht gut verwaltet haben. Das ist ein anderes Problem als das der Armen, die sich Geld leihen. Hier geht es um Verschwendung, wenn reichlich Geld da ist. Das Ergebnis ist ein vermeidbarer Zyklus aus immer wiederkehrenden Perioden von
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