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Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)

Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)

Titel: Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sendhil Mullainathan
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vorstellen, wie schnell jemand, der kurzsichtig ist, eine größere Summe auf den Kopf haut − und sich ganz schnell wieder in der Schuldenfalle findet.
    Die dritte Erklärung ist, dass die Straßenhändlerinnen schlicht und einfach nicht verstehen, welche gefährliche Macht in den Zinsen steckt. Schließlich war die Tatsache, dass man nur 30 Tage braucht, um schuldenfrei zu sein, so überraschend für uns, wie dass die Zinszahlungen so rasant ansteigen. Vielleicht wäre das auch für die Straßenhändlerinnen überraschend. Für sie, die lieber Schulden machen und die sich anhäufenden Kosten übersehen, erscheint das Ausleihen für einen Tag einfach billiger, als es ist. Gibt man den Straßenhändlerinnen Geld, ändert sich nicht automatisch ihre Ansicht über die Zinsen und sie werden weiterhin den Kredit preiswert finden und bald wieder in der Schuldenfalle stecken.
    Wir dachten, wir könnten ein wenig lernen, wenn wir den Straßenhändlerinnen eine einmalige Geldspritze geben, mit der sie der Schuldenfalle entrinnen können. Dann verfolgten wir das Verhalten der nun schuldenfreien Straßenhändlerinnen über ein Jahr.
    Die ersten paar Monate war alles gut: Die Straßenhändlerinnen gerieten nicht wieder in die Schuldenfalle. Sie verpulverten das Geld nicht für unüberlegte Ausgaben. Sie entschlossen sich auch nicht, es in anderer Form zu sparen. Sie fingen nicht an, wieder Geld zu borgen. Es sah aus, als wenn sie nun die Gefahren des Schuldenmachens erkannten und für immer der Schuldenfalle entkommen waren. Das stimmt weitgehend mit den qualitativen Daten überein: Die Straßenhändlerinnen schienen ganz und gar verstanden zu haben, dass jeder Rückstand bei den Zahlungen kostspielig sein würde. Wie dem Überbeschäftigten angesichts seiner Verpflichtungen schien ihnen bewusst zu sein, dass sie für ein Leben in der Schuldenfalle einen hohen Preis bezahlen.
    Aber das war nicht die ganze Geschichte. In den folgenden Monaten fielen sie Schritt für Schritt zurück. Oder besser gesagt: Eine nach der anderen fiel zurück. Am Ende des Jahres hatten sie wieder so viele Schulden angehäuft wie die Kolleginnen, die wir mit ihren Schulden allein gelassen hatten. Die Standarderklärungen werden also durch die Daten nicht unterstützt, denn die Straßenhändlerinnen fallen nicht auf Anhieb zurück. Aber auch die Ansicht, die Straßenhändlerin in der Schuldenfalle bräuchte nur eine einmalige Geldspritze, um zu entkommen, wird nicht unterstützt.
    Wie können wir dieses Verhalten erklären? Warum fallen die Straßenhändlerinnen schließlich doch in ihr altes Verhalten zurück? Was hat es mit dieser Schuldenfalle auf sich, die so dramatisch eingreift und ihr Leben wieder ändert, nachdem sie doch genug Geld bekommen hatten, um ihr Einkommen zu verdoppeln?
schocks und katastrophen
    Der Kern des Problems ist das Fehlen von Reserven. Selbst nach unserer Geldspritze lebte unsere Straßenhändlerin von weniger als 2 Dollar am Tag, und mit ihrem Einkommen musste sie nicht nur sich selbst über Wasser halten. Bei dieser Überforderung konnte schon ein kleiner Stolperstein alles ins Wanken bringen, beispielsweise wenn eine Hochzeit von Verwandten anstand, für die ein Geschenk gekauft werden musste. In einem Land wie Indien diktieren die sozialen Bräuche, dass das Geschenk groß genug sein muss. Wie die Straßenhändlerin mit diesem Problem klarkommen konnte, hing davon ab, ob sie gerade Schulden machte oder sparte.
    Im Schuldenzyklus steht die Straßenhändlerin vor einer schwierigen Herausforderung. Sie muss Ausgaben verschieben, um das Geschenk kaufen zu können. Aber welche? Vielleicht könnte sie einfach ein kleineres Geschenk kaufen? Sie wird vom Tunnelblick beherrscht, aber ein Kredit ist keine Option. Sie steht ja beim Geldverleiher schon in der Kreide, um Früchte und Gemüse kaufen zu können. Sie übersteht das finanzielle Unwetter, indem sie etwas opfert. Es mag schmerzlich sein, etwas zu opfern, um das Geschenk kaufen zu können, und sie mag sich schämen, dass das Geschenk, das sie sich leisten kann, so mager ausfällt.
    Stellen wir uns nun die Straßenhändlerin im Sparzyklus vor, nachdem wir all ihre Schulden beglichen haben. Angesichts der Notwendigkeit, ein Geschenk zu kaufen, verfällt auch sie dem Tunnelblick und muss diesem Zwang nachgeben. Aber für sie liegt eine »einfache« Lösung auf der Hand: Sie hat ja Geld zur Verfügung. Es ist natürlich für Notfälle gedacht, aber das ist ja ein Notfall. Sie

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