Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)
nimmt ihr Arbeitskapital und kauft damit das Hochzeitsgeschenk. Wie will sie einem erneuten Schuldenzyklus entkommen? Wie hoch sind die Kosten? Inzwischen kennen wir die Antworten auf diese Fragen: »Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern.« Solche Bedenken liegen strikt außerhalb des Tunnels.
So gesehen fällt die Straßenhändlerin wieder in die Knappheitsfalle zurück, weil sie nicht genügend Geldreserven hat, um den Schock abzufedern, dem sie ausgesetzt ist. Ein Schock, der mehr als ihre Reserven verschlingt, lässt sie wieder in die Psychologie der Knappheit zurückfallen. Und einmal dort angekommen, ist das Erste, was man opfert, das Ersparte. Obwohl das keine direkten Beweise sind, unterstützen die Daten der Straßenhändlerinnen diese Interpretation. Sie fallen nicht sofort, sondern nach und nach oder eine nach der anderen zurück, wie wenn sie herausgepickt würden. Es passiert genau das, was man erwartet, wenn sie von sporadischen Schocks getroffen werden. In vielen Fällen berichteten die Straßenhändlerinnen, dass ein Schock der Auslöser war, um wieder Geld zu leihen und schließlich abzusinken.
All das erscheint ganz vertraut, wenn wir nun darüber im Zusammenhang mit der Zeit nachdenken. Angenommen, wir geben einem Überbeschäftigten, der immer zurückliegt, ein Zeitgeschenk: Alleschon überfälligen Termine verschwinden, alle ausstehenden zeitlichen Verpflichtungen werden erledigt. Unsere zuvor überbeschäftigte Person könnte damit eine Zeit lang zurechtkommen. Aber irgendwann wird auch sie einen Fehler begehen: eine unerwartete Panne bei einem großen Projekt, ein gesundheitlicher Rückschlag oder auch nur ein Schub von Lethargie und ein zeitweiser Abfall der Produktivität − und schon liegt die Person wieder zurück.
Jede kleinste Instabilität hängt wie ein Damoklesschwert über dem Leben, wenn es immer kurz vor der Knappheitsfalle steht. Die Instabilität oder Störung wird ziemlich sicher spürbar, wenn zu wenige Reserven da sind, um sie abzufedern. Die Autoren von Portfolios of the Poor haben beobachtet, dass das Leben der Armen voller Instabilitäten ist. Wer mit nur 2 Dollar am Tag leben muss, verdient diese 2 Dollar nicht jeden Tag, es gibt 3-Dollar-Tage und 1-Dollar-Tage. 10 Das Leben ganz unten ist starken Schwankungen ausgesetzt. In den USA und anderen entwickelten Ländern mag diese Volatilität geringer sein, sie ist aber immer noch ausgeprägt. Die Armen haben meist wechselnde Einkünfte aus diversen Quellen. Sie haben oft mehrere Jobs, die alle gelegentlich ausfallen können. Viele der Jobs werden stundenweise bezahlt, und die Zahl der Arbeitsstunden variiert oft. Und natürlich ist Arbeitslosigkeit immer eine ernstzunehmende Bedrohung. Plötzliche Ausgaben wie für eine Autoreparatur oder wegen einer Krankheit stellen ebenfalls ein Problem dar. Betrachten wir den folgenden Bericht, der aus Interviews zusammengesetzt ist, die an einer Volkshochschule in New Mexico gemacht wurden:
Autoreparaturen sind unerwartete Ausgaben. Bei den Betroffenen ging es um Rechnungen über Hunderte von Dollar, die einen signifikanten Teil der angegebenen monatlichen Einnahmen aufzehrten. Um diese Reparaturen zu bezahlen, borgten die Betroffenen Geld von Freunden und Verwandten und suchten finanzielle Unterstützung. Oder sie warteten auf einen vermuteten Geldregen wie etwa ein Stipendium. 11
Was die größte Rolle spielt, ist das Fehlen von Reserven, um einen neuen Schock abzufedern. Das ist der Grund für die großen Auswirkungen jeder Störung. Wo nimmt man ohne ausreichend Reserven das Geld für die Reparatur des Autos her, wenn es kaputt geht? Haben Sie Geld flüssig, nehmen Sie es dafür her. Sind Sie einigermaßen wohlhabend, werden Sie bei anderen Ausgaben etwas zurückstecken und vielleicht auf das teure Dinner verzichten, das Sie am Wochenende geplant haben. Wenn Sie einen Zweitwagen haben, werden Sie vielleicht die Reparatur aufschieben, bis Sie das Geld dafür beisammen haben. Das sind alles leicht zu verwirklichende Optionen. Wenn Ihnen aber Ersparnisse und ein Zweitwagen fehlen und es auch kein teures Dinner gibt, das Sie streichen können, wird die Autoreparatur zu einer ernsten Herausforderung. Wo könnten Sie das Geld herbekommen? In diesem Augenblick legen Sie Ihre Scheuklappen an. Sie borgen Geld. Und stehen damit am Anfang des Wegs zurück in die Knappheitsfalle.
All dies legt nahe, unseren Begriff von Knappheit zu vertiefen: Knappheit ist nicht nur die
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