Knochen-Mond
das auch nicht gemeint gewesen, Carla. Ich wollte nur wissen, ob du so tief und fest träumst, daß du im Traum etwas ganz anderes erlebst und dich plötzlich als eine Gestalt siehst, die dir völlig fremd ist, wobei du aber trotzdem mit dieser zweiten Gestalt identisch bist?«
»Hä?« machte Carla. »Hör mal, denkst du noch normal nach? Oder schwebst du in anderen Sphären?«
»Nein, das nicht. Ich habe meine Frage ernst gemeint. Es gibt diese Träume.«
Carla Hill war eine intelligente junge Frau. »Moment mal, Barry. Das käme einer Teilung der Persönlichkeit gleich, wenn ich näher darüber nachdenke.«
»So ist es.«
»Nein, Barry, auf keinen Fall. Das habe ich noch nie geträumt. Wenn ich träume, dann bin ich auch im Traum ich selbst und keine andere Person, die nur so aussieht wie ich oder so ähnlich.«
Barry F. Bracht nickte. »Ja, Carla, das ist schon ziemlich kompliziert, finde ich.«
Carla Hill zog die Nase kraus. »Ist dir denn so etwas schon mal passiert, Barry?«
»Vielleicht.«
»Jetzt?«
Er trank Kaffee und konnte sich vor einer Antwort drücken, weil sie ins Sekretariat mußte, denn dort hatte das Telefon geklingelt. Nachdenklich schaute Barry F. Bracht auf den Schreibtisch. Er wußte plötzlich, daß er nicht mehr länger bleiben konnte. Nein, dieser Raum engte ihn ein. Er mußte weg.
Barry F. Bracht stand auf, nahm seine Jacke und hängte sie über die Schulter. Die lasche ließ er zurück.
Im Vorzimmer schaute ihn Carla erstaunt an. »Du willst weg, Barry?«
»Ja.«
»Wann bist du zurück?«
Er stand an der Tür, eine Hand lag auf der Klinke. Dann sagte er: »Es kann lange dauern, Carla, sehr lange sogar…«
Sekunden später war er verschwunden. Zurück ließ er eine Sekretärin, die die Welt nicht mehr verstand und nur noch den Kopf schütteln konnte…
***
Von Dennis war nicht mehr viel zu sehen. Der größte Teil seines Körpers war hinter der Speisekarte verschwunden.
»Was möchtest du denn essen?« fragte ich.
»Das ist schwer, John. So etwas kenne ich alles nicht.«
»Nudeln mit Soße?«
Hinter der Speisekarte drang ein Brummen hervor, ansonsten hörte ich von Dennis keinen Kommentar.
Wir hatten uns nach draußen gesetzt. Die Sonne wollte nicht richtig durchkommen, die Wolkendecke war einfach zu dicht. Dennoch war ihre Kraft zu spüren. Die schwülheiße Luft lag wie ein Druck über uns. London brodelte.
Bald sollte das Wetter wechseln. Ich spürte auch den leichten Druck, der immer dann eintrat, wenn das Wetter vor einer Änderung stand. So wie mir erging es Tausenden.
Einer der beiden Inhaber schaute zu uns herüber. Ich winkte noch ab. Ein großes Glas Limonade hatte Dennis bereits bekommen und damit seinen ersten Durst gelöscht.
Er ließ die Karte sinken. Zunächst erschien sein hellblondes Haar, dann die Stirn, anschließend die blauen Augen. »Ich habe mich entschieden, John.«
»Wunderbar. Für was?«
»Ich nehme eine Pizza.«
»Klasse. Hätte ich an deiner Stelle auch getan.«
»Warum?«
Ich winkte dem dunkelhaarigen Besitzer. »Die Pizzen sind hier erstklassig.«
»Ich möchte viele Tomaten.«
»Da kannst du dir noch einen Salat zusätzlich bestellen.«
»Das mache ich auch.«
Ich hatte mich für einen großen Salatteller entschieden. Dazu trank ich Wein, den ich mit Mineralwasser mixte.
Der Junge schaute auf die Straße, beobachtete den Verkehr. Manchmal fuhr er über seine Stirn, um den Schweiß abzuwischen. »So schlimm ist es bei uns nicht.«
»Du sprichst vom Wetter?«
»Klar. Bei uns ist es immer frischer. Aber dafür habt ihr nicht den Mond mit den Knochen.«
»Stimmt.« Ich fragte bewußt nach, weil er von allein berichten sollte. Das tat er auch und hielt dabei sein Glas in der Hand, aus dem er hin und wieder einen Schluck nahm.
»Wenn er scheint, sind die Menschen anders. Dann verlassen sie ihre Häuser und gehen hin, um ihn sich anzusehen.«
»Einfach so?« fragte ich.
»Nein. Sie haben vorher geschlafen, John. Sie müssen auch geträumt haben. Denn sie sehen so aus, wie Menschen, die aus ihren Träumen herausgerissen wurden.«
»Hast du das gemerkt?«
»Das sagte man mir.«
»Wer?«
»Alle, John. Auch ich habe es gespürt. Ich bin aus meinem Traum erwacht und mußte aufstehen. Ich ging mit den anderen los. Viele tragen Laternen. Wir haben dann gegen den Mond geschaut.«
»Hast du mit ihnen über die Träume gesprochen?«
»Auch das.«
»Was sagen denn die Erwachsenen dazu?«
»Sie nehmen sie hin. Nur Tom Evans
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