Knochen zu Asche
aufgeblähte Leiche, die einmal Claire Brideau gewesen war.
Harry. Heute war Mittwoch. Ich hatte sie seit Sonntagabend nicht gesehen. Hatte seit ihrem Anruf auf meinem Handy am Montagvormittag nichts von ihr gehört.
Ein Bildfragment hängte sich an die Stoßstange eines anderen. Évangéline in Seilen. Ein Mädchen auf einer Bank. Claudine, eine Tragödie auf zwei Beinen. Der Mischlingsteenager aus dem Lac des Deux Montagnes.
Konnte es sein, das Évangéline noch immer in der Pornoindustrie arbeitete? War das vielleicht das Geheimnis, das Obéline vor mir verbarg?
Und immer wieder gingen mir Gesprächsfetzen durch den Kopf . Ich hatte Mokassins an, während ein Kerl in einem Lendenschurz mich fickte. Bastaraches beunruhigende Bemerkung. Ich
hab noch mit Algebra gekämpft, als dieses Mädchen da indianische Prinzessin gespielt hat.
Wieder spürte ich ein Schulterklopfen von meinem Unterbewusstsein.
Bastarache wusste, dass das Video mit dem Mädchen auf der Bank bereits einige Jahre auf dem Buckel hatte. Es war in seinem Haus aufgenommen worden. Der Kerl musste einfach Dreck am Stecken haben. Oder vielleicht doch nicht? Wie alt war er damals gewesen? Was war seine Rolle im Familiengeschäft der Bastaraches?
Das Schulterklopfen hörte nicht auf.
Das menschliche Gehirn, nun ja, übersteigt den Verstand. Chemikalien. Elektrizität. Flüssigkeit. Zytoplasma. Man muss es nur richtig verdrahten, und es funktioniert. Kein Mensch weiß wirklich, wie.
Aber die Teile des Gehirns können wie Regierungsbehörden sein, die ihre Reihen schließen, um ihr exkluxives Wissen zu bewahren. Großhirn. Kleinhirn. Stirnlappen. Großhirnrinde. Manchmal braucht man einen Katalysator, um die Einzelteile zur Zusammenarbeit zu bewegen.
Meine Neuronen hatten in den letzten Tagen Wagenladungen voller Informationen aufgenommen, aber noch nicht verdaut. Plötzlich bewegte sich etwas. Das untere Hirn rief das obere an. Warum? Claudine Cloquets Traumfänger.
»Was, wenn Obéline die Wahrheit sagt?«, fragte ich und setzte mich auf. »Was, wenn unser Perverser wirklich der Kerl ist, der für Bastaraches Vater gearbeitet hatte?«
»Okay.«
»Als Harry und ich in Tracadie waren, erwähnte Obéline einen ehemaligen Angestellten ihres Schwiegervaters. Sagte, ihr Mann hätte ihn gefeuert, und es wäre keine freundschaftliche Trennung gewesen.«
Ryan sagte nichts.
»Dieser ehemalige Angestellte baute die Schwitzhütte, die
später zu einem Pavillon umgebaut wurde. Er war verrückt nach Indianerkunst. Geschnitzte Bänke. Totempfähle.« Ich machte eine dramatische Pause. »Kelly Sicard sagte, Pierre habe sie gezwungen, Mokassins zu tragen. Und wie lautete Bastaraches Bemerkung, als du ihm den Ausdruck mit dem Mädchen auf der Bank zeigtest?«
»Das Mädchen spielte indianische Prinzessin.« Ich hatte jetzt Ryans ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Auf diesem Foto war nichts, das auf ein indianisches Thema hinwies. Und die Videos, die Sicard aufzählte. Denk an die Titel. «
»Wampum. Wigwam. Der Hurensohn.«
»Claudine hatte einen Traumfänger. Sagte, sie hätte ihn von einem Mann bekommen, bei dem sie lebte, bevor sie zu Obéline kam.
Was, wenn Cormiers ›Agenten‹-Freund Pierre derselbe ist, den Bastarache feuerte? Derselbe, der Claudine in seiner Gewalt hatte?«
Ryan packte das Lenkrad fester. »Und wie passt Bastarache da rein?«
»Ich weiß es nicht.« Ich spuckte Einfälle aus, ohne wirklich nachzudenken. »Bastarache ist noch ein Junge. Er sieht, dass in seinem Haus Pornos gedreht werden. Ihm gefällt das nicht, und er schwört sich, der Sache eine Ende zu machen, sobald sein Alter den Löffel abgegeben hat.«
Ryan dachte darüber nach.
»Wie nannte Claudine diesen Widerling?«
»Sie kannte seinen Namen nicht. Oder wollte ihn nicht sagen. « Ich erzählte ihm von dem Wörterrundungsspiel. »Claudine betrachtet Adjektive entweder als flach oder als krummelig. An flache hängt sie ein ›o‹ an, an krummelige nicht. Das folgt keiner Logik, nur ihrer einzigartigen kognitiven Kartografie. Sie hat lediglich gesagt, dass der Kerl böse gewesen sei. Mal-o.«
Ryan kniff nachdenklich die Augen zusammen. Dann fügte er meiner »Was wenn«-Liste noch einen Bewerber hinzu.
»Was, wenn mal ein krummeliges Adjektiv ist? Eines, das man nicht runden kann?«
»Dann kann man kein ›o‹ anfügen.«
»Genau.«
Ich verstand, worauf Ryan hinauswollte. »Was, wenn es ein Name ist? Malo.« Neuronen feuerten. »Pierre Malo.«
Ryan griff bereits
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