Knochen zu Asche
und hat mit to bless, segnen, vom Sinn her nichts zu tun. Im Französischen bedeuten diesen zwei Zeilen: ›Oh, wo ist Gott? Auch tapfere Menschen, das Fleisch vom Feuer verletzt, stürzen sich in den Tod!‹«
»Du bist sicher, dass das ein Hinweis auf den elften September und das World Trade Center ist?« Mit einer unmöglichen Ruhe.
»Das muss es einfach sein.«
»Und du hast keinen Zweifel daran, dass die Gedichte in Bones to Ashes von meiner Freundin Évangéline geschrieben wurden?«
»Absolut keinen. Kann ich nun zu Ende erklären, wie ich zu dieser Schlussfolgerung gekommen bin?«
»Ich habe jetzt keine Zeit mehr, Rob.«
»Da ist noch mehr.«
»Ich ruf dich wieder an.«
» Alles in Ordnung mit dir?«
Ich schaltete ab. Ich wusste, dass das unhöflich und undankbar war. Wusste, dass ich ihm später Cognac und Blumen schicken würde. In diesem Augenblick wollte ich einfach nicht weiterreden.
Die Gedichte waren alle von Évangéline, und einige waren jüngeren Datums.
Weiter unten im Korridor ging eine Tür auf. Der Streit zwischen Homer und Marge wurde lauter.
Zumindest ein Gedicht war nach dem September zweitausendeins geschrieben worden.
Der Streit betraf eine Reise nach Vermont. Homer wollte mit dem Auto fahren. Marge wollte lieber fliegen.
Ich saß bewegungslos da, wie gelähmt davon, was Robs Ergebnisse implizierten.
Évangéline war zweitausendeins am Leben gewesen. Sie war nicht schon vor Jahrzehnten ermordet worden.
Bart und Lisa mischten sich in die Debatte ein und argumentierten für eine Fahrt mit einem Wohnmobil.
Obéline hatte gelogen, sie hatte nicht miterlebt, wie Évangéline zweiundsiebzig umgebracht wurde. Warum?
Hatte sie sich tatsächlich geirrt? Natürlich nicht, sie hatte ja die Gedichte. Sie musste ungefähr gewusst haben, wann sie geschrieben wurden.
Ein gemurmeltes Kichern mischte sich in meine Gedanken. Ich hob den Kopf. Das Zimmer war leer, aber an der Türöffnung fiel ein Schatten auf den Boden.
»Cecile?«, rief ich leise.
» Weißt du, wo ich bin?«
»Ich glaube …« Ich hielt inne, als wäre ich mir nicht ganz sicher. »… du bist im Wandschrank.«
»Nee.« Sie hüpfte in die Türöffnung.
»Wo ist Obéline?«
»Kocht was.«
»Du bist zweisprachig, nicht, meine Kleine?«
Sie machte ein verwirrtes Gesicht.
»Du sprichst Englisch und Französisch.«
»Was bedeutet das?«
Ich versuchte es anders.
»Können wir uns unterhalten, nur wir beide?«
»Oui.« Sie setzte sich zu mir an den Tisch.
»Du magst Wortspiele, nicht?«
Sie nickte.
»Wie funktioniert das?«
»Sag ein Wort, das Sachen beschreibt, und ich mache es rund.«
»Gros«, sagte ich und blies die Wangen auf.
Sie verzog das Gesicht. »Bei dem geht’s nicht.«
»Warum nicht?«
»Geht einfach nicht.«
»Erklär’s mir.«
»Wörter machen in meinem Kopf Bilder.« Sie verstummte, offensichtlich frustriert, weil sie es nicht richtig erklären konnte. Oder weil ich es nicht verstehen konnte.
»Erzähl weiter«, ermutigte ich sie.
»Manche Wörter schauen flach aus, und manche schauen krummelig aus.« Sie kniff die Augen zusammen und führte mit den Händen vor, was sie mit »flach« und »krummelig« meinte. »Flache Wörter kann man rund machen, indem man ›o‹ hinten dranhängt. Mit krummeligen Wörtern kann man das nicht.«
Klar wie Kloßbrühe.
Ich dachte an meine erste Unterhaltung mit Claudine. Das Mädchen sprach Franglais, ein buntes Kuddelmuddel aus beiden
Sprachen, und schien sich der Grenzen zwischen Französisch und Englisch überhaupt nicht bewusst zu sein. Ich fragte mich, was für ein gedankliches Konstrukt flache von krummeligen Wörtern unterschied. Glitzer und drôle waren offensichtlich flach. Gros war krummelig.
»Fett«. Ich probierte es mit der Übersetzung von gros.
Die grünen Augen funkelten. »Fett-o.«
» Glücklich.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Fort.«
»Nee. Ist krummelig.«
»Wild«, sagte ich, bleckte die Zähne und krümmte die Finger zu Klauen wie ein Monster.
»Wild-o.« Kichernd ahmte sie meine Wildheit nach.
Was für eine semantische Ordnung ihrVerstand da erschaffen hatte, würde mir immer ein Geheimnis bleiben. Nach ein paar weiteren Beispielen wechselte ich das Thema.
»Bist du glücklich hier, Cecile?«
»Glaub schon.« Sie steckte sich die Haare hinter die Ohren. Lächelte. »Aber ich mag auch das andere Haus. Das hat große Vögel auf Pfählen.«
Das Haus in Tracadie. Wahrscheinlich war sie auch dort gewesen, als Harry und ich
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