Knochen zu Asche
ihre Brust beben, hörte leise schluchzendes Atmen. Sie ließ mich los und ging aus dem Zimmer. Ich wusste, dass meine Schwester über Obélines Tod ebenso bestürzt war wie ich.
In diesem Augenblick konnte ich es nicht ertragen, auch noch die anderen Gedichte zu lesen. Ich versuchte zu schlafen. Versuchte, alles aus meinem Kopf zu verbannen. Ich schaffte es nicht. Immer wieder blitzten Fragmente dieses Tages vor mir auf. Cormiers Flash Drive. Hippos Wut. Obélines Selbstmord. Évangélines Gedichte. Das Skelett. L’Île-aux-Becs-Scies.
Bec scie. Ente. Weit hinten in meinem Kopf ein Flüstern. Schwach, unverständlich.
Das Schlimmste war, sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht mehr als ein sehr verschwommenes Bild von Évangélines Gesicht heraufbeschwören.
War mein Gedächtnis erschöpft, ausgelaugt von zu vielen Anfragen? Oder war es das genaue Gegenteil? In der Medizin sprechen wir von Atrophie, dem Schrumpfen von Knochen oder Gewebe aufgrund mangelnder Benutzung. War Évangélines Gesicht aufgrund vonVernachlässigung verschwunden?
Ich setzte mich auf, weil ich mir den Schnappschuss in dem Album noch einmal genau anschauen wollte. Als ich nach der Lampe griff, kam mir ein beunruhigender Gedanke.
Waren meine Erinnerungen an meine Freundin inzwischen abhängig von fotografischer Auffrischung? Wurden sie geformt von den Zufälligkeiten des Licht- und Schattenspiels in einem kurzen Augenblick der Vergangenheit?
Ich legte mich wieder hin, machte den Kopf frei und fing dann an, tief zu graben.
Widerspenstige dunkle Locken. Ein knappes Senken des Kinns. Ein sorgloses Zurückwerfen des Kopfes.
Wieder das nagende Psst! aus meinem Unterbewusstsein.
Honigfarbene Haut. Rötlichbraune Sommersprossen um eine sonnenverbrannte Nase.
Eine Bemerkung…
Strahlend grüne Augen.
Irgendeine Verbindung, die ich übersehen hatte …
Ein etwas zu kantiges Kinn.
Ein Gedanke. Der mich nicht in Ruhe ließ …
Geschmeidige Glieder. Eine zarte Andeutung von Brüsten.
Etwas über eine Ente …
Und dann schlief ich ein.
Um acht Uhr am nächsten Morgen saß ich in meinem Büro im Wilfrid-Derome. Es sollte ein Tag der Unterbrechungen werden.
Mein Telefon blinkte wie das Warnsignal an einem Bahnübergang. Ich hörte die Nachrichten ab, rief aber nur ein einziges Mal zurück. Frances Suskind, die Meeresbiologin an der McGill.
Die Diatomeen-Proben, die ich dem jungen Mädchen vom Lac des Deux Montagnes entnommen hatte, hatte ich inzwischen völlig vergessen. Ryans Tote Nummer drei.
Suskind meldete sich nach dem ersten Läuten.
»Dr. Brennan. Ich wollte Sie eben noch einmal anrufen. Meine Studenten und ich sind sehr aufgeregt über unsere Resultate. «
»Sie haben die Informationen an Studenten weitergegeben? «
»Natürlich nur Doktoranden.Wir fanden Ihre Herausforderung sehr inspirierend.«
Herausforderung? Inspirierend?
»Sind Sie vertraut mit dem Bereich der Limnologie?«
»Diatomeen haben ihre eigene -ologie?« Als Witz beabsichtigt. Suskind lachte nicht.
»Diatomeen gehören zu der Klasse Bacillariophyceae des Stamms Chrysophyta der mikroskopischen einzelligen Pflanzen. Wussten Sie, dass die Mitglieder dieser Gruppe so zahlreich sind, dass sie die größte einzelne Sauerstoffquelle unserer Atmosphäre darstellen?«
»Das habe ich nicht gewusst.«
Ich fing an, auf einem Blatt Papier zu kritzeln.
»Ich möchte Ihnen zuerst unsere Vorgehensweise erläutern.
Zunächst sammelten wir zwölf Proben von insgesamt sieben Stellen am Fluss und um den Lac des Deux Montagnes, der ja eigentlich Teil des Flusses ist, und natürlich auch von L’Île-Bizard, in der Nähe des Leichenfundorts. Diese Proben dienten uns als Referenzen für die Untersuchung der vom Opfer erhaltenen Diatomeen-Zusammensetzung. Diese entnahmen wir den Proben, die Sie uns geliefert haben. Dem Knochenstück und der Socke.«
»Aha.« Ich malte Linien und Schnörkel, die ein wenig züngelnden Flammen ähnelten.
»An jeder Stelle entnahmen wir Proben aus jeweils unterschiedlichen Lebensräumen. Flussbett. Flussufer. Seeufer.«
Ich ließ die Flammen noch ein wenig mehr züngeln.
»Unser Referenzproben ergaben achtundneunzig verschiedene Diatomeen-Arten. Die verschiedenen Zusammensetzungen sind einander ähnlich und haben viele gemeinsame Arten.«
Ich fing mit einem Vogel an.
»Zu den dominanten gehören Navicula radiosa, Achnan –«
Es gibt über zehntausend Diatomeen-Arten. Da ich befürchtete, Suskind hatte vor, sie alle
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