Knochen zu Asche
geöffnet war, klingelte schon wieder das Telefon. Diesmal war es Harry.
»Hast du den forensischen Linguisten schon angerufen?«
»Noch nicht.«
Harry bediente sich Schweigen, um ihr Missfallen auszudrücken.
»Ich werde es noch tun.«
»Wann?«
»Noch heute Morgen.«
Wieder summte tadelnde Stille im Hörer.
»Ich mache es gleich.«
»Gut.«
»Was treibst du so?«
»Nicht viel. Ich lese diese Gedichte. Sie sind wirklich ziemlich schön.«
Ich merkte, dass sie deprimiert war.
»Harry, weißt du noch, wie wir immer gekocht haben, wenn Mama mal wieder einen schlechten Tag hatte?«
»Ja.«
»Lass uns das heute Abend machen. Wir beide gemeinsam.«
»Du warst damals ziemlich rechthaberisch.«
»Such dir ein Rezept aus. Ich mache den Hilfskoch.«
»Du rufst den Linguisten an?«
»Sobald ich aufgelegt habe.«
»Wie wär’s mit dem Gericht, das wir damals immer mit Hähnchen und Kartoffelbrei zauberten?«
»Perfekt.«
»Werden sie mich in dem kleinen Lebensmittelladen an der Sainte-Catherine überhaupt verstehen?«
»Sprich Englisch. Nicht Texanisch.«
»Haha!«
»Und Harry.« Ich zögerte kurz. »Pass auf dich auf.«
»Warum?«
»Sei einfach vorsichtig.«
Rob Potter schloss eben seine Doktorarbeit in Anthropologie ab, als ich mit meiner Promotion an der Northwestern anfing. Älter und weiser, wie er war, war er mir ein Ohr gewesen, das mir zuhörte, und eine Schulter, an der ich mich ausweinen konnte. Ganz zu schweigen davon, dass so ziemlich jedes Mädchen heimlich in ihn verknallt war. Es klingt zwar unwahrscheinlich, aber bevor er Akademiker wurde, war Rob ein echter Rockstar gewesen. Hatte in Woodstock gesungen. Hatte Lederjacken und hinternbetonende Goldlaméhosen getragen. Kannte Hendrix, Lennon und Dylan. Seiner Aussage nach hatte er die Bühne verlassen, weil die Rockmusik nach dem Tod von Jimi und Janis ihre Strahlkraft verloren hatte und weil er sich seine Zukunft lieber als alternder Professor denn als alternder – oder toter – Rockstar vorstellte.
Während ich mich mit Knochen abmühte, analysierte Rob Sprache und konzentrierte sich dabei auf ihren Kontext in anderen semiotischen Systemen und Modalitäten. Er erklärte mir einmal, was das bedeutet. Und ich verstand. In gewisser Weise.
Rob gehörte jetzt zur Fakultät an der Columbia. Wie ich hatte auch er sich von Polizisten und Juristen, die sein Fachwissen benötigten, in die Forensik ziehen lassen. Obwohl wir noch nie gemeinsam an einem Fall gearbeitet hatten, machten wir doch oft Witze über die Möglichkeit.
Ich schlug im Mitgliederverzeichnis der American Academy of Forensic Sciences nach. Rob war aufgeführt.
Ich wählte. Er meldete sich. Ich nannte meinen Namen.
»Ich habe an dich gedacht.«
»Ich nicht«, sagte ich.
»Und wenn du es hättest tun sollen?«
»Dann habe ich es getan.«
»Freut mich, dass das geklärt ist. Da du so gewissenhaft bist, würdest du es in Betracht ziehen, die Programmleitung für den AAFS-Kongress im nächsten Jahr zu übernehmen?«
»Kann ich darüber nachdenken?«
»Die Frage kannst nur du beantworten.«
»Ich denke darüber nach.«
»Na gut.Was hast du auf dem Herzen?«
»Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
»Nicht, bevor ich weiß, wie viel Geld das kosten wird.«
»Könntest du zwei Gedichtproben analysieren?«
»Könnte ich.«
»Würdest du?«
»Natürlich. Für dich tue ich alles. Geht es darum, demografische Informationen über den Autor herauszufinden oder um die Feststellung, ob die Texte von ein und demselben Autor stammen.«
»Um Letzteres.«
»Rede weiter.«
»Ein Gedicht wurde von einem heranwachsenden Mädchen geschrieben. Der Autor der anderen ist unbekannt.«
»Du vermutest, dass die Gedichte von derselben Hand verfasst wurden.«
»Das ist eine Möglichkeit.«
»Du musst dir bewusst sein, dass eine solche Untersuchung sehr lang dauern kann.«
»Wenn du mal gerade Zeit hast. Aber die Sache hat einen Haken.«
»Kann ich wenigstens mein Mäntelchen dranhängen.«
»Das ist keine offizielle Anfrage.«
»Soll heißen, kein Geld. Oder muss ich die Analyse vergessen, nachdem ich sie dir gegeben habe?«
»Na ja, beides.«
»Ein Gefallen also. Und ein inoffizieller dazu. Und geheim. Und kein Geld.«
»Ich werde –«
»O ja, du wirst schon noch dafür bezahlen. Vielleicht bei deinem nächsten Abstecher nach New York?«
»Mittagessen. Abgemacht.«
»Erzähl mir von der Sache.«
»Einige der Gedichte tauchen in einem bei einem Selbstkostenverlag
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