Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
selbst«, ergänzt er. »Die Nazis haben im schicken Schloss der Zenners residiert, während ein paar Straßen weiter Tausende von Menschen gefoltert und ermordet wurden. Und Annas Familie hat einen Scheißdreck dagegen unternommen.«
»Was hätten sie denn tun sollen?«
»Ich weiß nicht«, sagt Marino.
»Eine Mutter, ein Vater, drei halbwüchsige Töchter und ein Sohn?«
»Ich weiß es nicht, irgendwas eben.«
»Ja, was denn? Es ist ein Wunder, dass sie nicht auch umgebracht worden sind.«
»Vielleicht würde ich mich lieber umbringen lassen, als bei so was mitzumischen.«
»Im eigenen Zuhause in Geiselhaft gehalten zu werden, von Soldaten, die die Töchter vergewaltigen, und der Himmel weiß, was sie dem kleinen Jungen angetan haben, würde ich nicht unbedingt als
mitmischen
bezeichnen.« Ich erinnere mich an die schrecklichen Dinge, die Anna mir anvertraut hat. Damals heulte draußen ein heftiger Wind und fegte abgebrochene Zweige und kleine braune Ranken durch ihren Garten, während ich spürte, wie die Angst von allen Seiten näher an mich heranrückte.
Mir stockte der Atem, als sie mir von dem Schloss unweit von Linz am Ufer der Donau erzählte, das schon seit Jahrhunderten in Familienbesitz gewesen war. Tag für Tag stiegen die düsteren Wolken des Todes aus dem Krematorium am Horizont über dem kleinen Ort Mauthausen auf. Dort gab es einen tiefen Krater im Boden, einen Granitsteinbruch, wo Tausende von Gefangenen arbeiten mussten. Juden, spanische Republikaner, Russen, Homosexuelle.
»Du hast keine Ahnung, woher Günter Zenner das viele Geld hat«, höre ich Marino sagen, während ich in den sonnigen Morgen hinausblicke. In mir ist es dunkel, und ich erinnere mich an die Abende in Annas Haus in Richmond, während der düstersten Zeit meines Lebens. »Tatsache ist, dass Günter schon reich war, bevor er ins Bankengeschäft einstieg. Er und Anna haben tonnenweise Geld von ihrem Vater geerbt, der in seinem Familienschloss Nazis beherbergt hat. Die Zenners haben sich an jüdischem Vermögen bereichert und ihr Geld mit Granitsteinbrüchen verdient. Einer davon gehörte zu einem Konzentrationslager, das so nah war, dass man den Qualm aus den Öfen sehen konnte.«
»Das sind schreckliche Anschuldigungen«, entgegne ich und starre weiter aus dem Beifahrerfenster.
»Schrecklich ist, woran Luke dich erinnert«, gibt Marino zurück. »An eine Zeit nämlich, mit der du dich nicht mehr befassen solltest, da jetzt alles gut ist. Wozu, zum Teufel, brauchst du ein Souvenir von damals, als alles den Bach runterging und du dir Vorwürfe gemacht hast? Wegen Bentons Tod, denn damals musstest du ja glauben, dass er nicht mehr lebt. Und auch wegen allem anderen, einschließlich Lucy. Sie will das ebenso wenig wie ich. Sie möchte nicht, dass du dich wieder mit Sorgen um sie zermürbst und dir einredest, das alles sei irgendwie deine Schuld.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, erwidere ich. Allerdings werde ich es nun, nachdem er es ausgesprochen hat, vermutlich tun.
Lucys Anfangstage in der technischen Forschungsabteilung des FBI in Quantico haben mich schon sehr lange nicht mehr beschäftigt. Doch jetzt hat er Bilder an die Lucy aus diesen Tagen in mir wachgerufen, und es sind keine erfreulichen. Eine problembeladene Jugendliche, die derart genial mit einem Computer umgehen konnte, dass sie mehr oder weniger allein das Criminal Artificial Intelligence Network ( CAIN ) des FBI eingerichtet hat. Leider hat sie sich dabei in eine Psychopathin verliebt, die uns allen beinahe zum Verhängnis geworden wäre.
Ich habe ihr dieses Praktikum beim
FBI
besorgt,
habe ich damals verzweifelt zu Anna gesagt. Wir saßen in ihrem Wohnzimmer am Kaminfeuer und hatten die Lichter gelöscht, weil mir das Sprechen in der Dunkelheit schon immer leichtergefallen ist.
Ich. Ihre einflussreiche Tante mit den guten Beziehungen.
Es hat nicht ganz das gewünschte Ergebnis gehabt, was?
Carrie hat sie benutzt …
Und Lucy zur Lesbe gemacht?
Man kann niemanden zur Lesbe machen,
entgegnete ich, worauf Anna, die Psychiaterin, abrupt aufstand. Das Kaminfeuer beleuchtete ihre aristokratischen Gesichtszüge. Und dann ging sie einfach hinaus, als hätte sie noch einen anderen Termin.
»Ich weiß, dass du es nicht hören willst«, fährt Marino fort. »Aber ich weise dich trotzdem darauf hin, dass du Luke Anfang Juli eingestellt hast. Und sechs Wochen später verschwindet die Dinosaurier-Lady aus genau jenem Gebiet, wo das Öl gefördert
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