Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
lassen.«
»Ach ja? Dann ist es wahrscheinlich sein Glück, dass er im Knast sitzt. Ich möchte mit niemandem tauschen, der einem Killer erst hundert Riesen verspricht und dann das Geld nicht rausrückt.«
»Haben wir ein Transportfahrzeug?«
»Ja. Toby erwartet uns an der Station der Küstenwache mit einem Transporter. Ich habe ihm gesagt, dass er frühestens in einer Stunde loszufahren braucht.«
Auf der anderen Seite der belebten Straße, die eine Kurve um unser Gebäude beschreibt, strömt der Fluss dahin; sein tiefblaues Wasser funkelt in der Sonne. Die Blätter der Laubbäume am Ufer verfärben sich dort, wo das kalte Wasser die Luft abkühlt, allmählich gelb und rot. In diesem Jahr kommt der Herbst spät; noch kein einziges Mal Frost. Die meisten Bäume sind grün mit einem leichten Braunstich. Ich befürchte, dass wir einen nahtlosen Übergang in den Winter bekommen werden, was so weit oben im Norden praktisch über Nacht geschehen kann.
»Ich weiß von der E-Mail«, sagt Marino schließlich. Ich habe mir schon gedacht, dass er irgendwann darauf zu sprechen kommen wird.
Da ich mir nicht vorstellen kann, dass Lucy es ihm verschwiegen hat, sage ich es ihm auf den Kopf zu.
»Warum hast du mich nicht sofort angerufen?«, fragt er.
Am anderen Flussufer erheben sich die Wolkenkratzer der Innenstadt von Boston. Und dahinter befinden sich der Innen- und der Außenhafen und die Massachusetts Bay, wo uns ein Feuerwehrboot erwartet. Hoffentlich hat es die Schildkröte geschafft. Es würde mich traurig machen, wenn sie ertrunken wäre.
»Ich wusste nicht, ob du noch im Flugzeug sitzt. Außerdem habe ich keinen Grund gesehen, dich damit zu behelligen«, erwidere ich. »Irgendein Geisteskranker wollte mich erschrecken, was ihm leider gelungen ist. Hoffentlich ist es nur ein schlechter Scherz.«
»Du hättest mich aber behelligen sollen, weil man es auch als Drohung deuten könnte. Als Bedrohung einer Staatsbediensteten. Es wundert mich, dass Benton es nicht auch so verstanden hat.« Marinos Bemerkung ist ein weiterer Seitenhieb. Offenbar fragt er sich, wie üblich, ob Benton ausreichend um meine Sicherheit besorgt ist und als Ehemann etwas taugt.
»Hat Lucy dir auch verraten, von welcher IP -Adresse die Mail verschickt wurde?«
»Ja, das ist mir bekannt. Vielleicht sollte es so wirken, als wäre es einer von uns gewesen. Bryce, ich oder sonst jemand, der gestern um die Zeit, als du die Mail gekriegt hast, in Logan angekommen ist. Du solltest dich fragen, wer ein Interesse daran haben könnte, diesen Eindruck zu erwecken, und wer sich etwas davon verspricht, wenn du den Menschen in deiner engsten Umgebung nicht mehr vertraust.«
Er wechselt auf die rechte Spur und fährt auf die Longfellow Bridge, deren Türme in der Mitte an Salz- und Pfefferstreuer erinnern. Währenddessen denke ich daran, wie Lucy vorhin mein Büro durchsucht hat. Wir fädeln uns in die lange Reihe von Autos ein, die den Fluss in Richtung Beacon Hill überqueren. Im dichten Berufsverkehr rührt sich fast nichts, und die Autoschlange erstreckt sich, so weit das Auge reicht, über das Wasser bis in die Cambridge Street. Ich erinnere mich an ihre Worte, es könnte jemand gewesen sein, den wir kennen, und male mir aus, wie Marino und sie dieses Thema erörtert, gemutmaßt und Vorwürfe erhoben haben. Es gehört nicht viel dazu, sie so zu provozieren, bis sie auf dem Kriegspfad ist.
»Schau, es ist kein Geheimnis, dass ich nicht viel von ihm halte. Verdammt, was wissen wir denn über ihn, außer dass er Annas Neffe ist?«, sagt Marino, und eigentlich wundert es mich nicht, dass er schon die ganze Zeit um diesen Punkt herumredet. »Ich und Lucy machen uns Gedanken über Motive, die dir vielleicht noch nicht eingefallen sind. Außerdem haben wir nach einer Verbindung gesucht. Es gibt eine, und zwar zu seinem Vater.«
»Eine Verbindung wozu?«
»Möglicherweise zu einer ganzen Menge von Dingen. Einschließlich zu dieser Mail vom Flughafen. Und der Frage, was sonst noch so zwischen euch beiden läuft … Ich meine, es ist doch ziemlich offensichtlich, dass er Macht über dich hat …«
»Ich würde mich freuen, wenn du Lucy oder anderen Leuten nicht einen solchen Floh ins Ohr setzen würdest«, unterbreche ich ihn, bevor er seine Anschuldigung gegen Luke beenden kann.
»Sein Vater ist doch ein großer Finanzmogul in Österreich, richtig?«
»Du solltest mit deinen Andeutungen ein wenig vorsichtiger sein.«
»Du hast Günter bei Annas
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