Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
Beerdigung getroffen, richtig?« Er lässt nicht locker.
Günter Zenner ist der Einzige von Annas Geschwistern, der noch lebt. Ich habe ihn kurz bei der Trauerfeier auf dem Zentralfriedhof am Grab gesehen, einen ausgemergelten, in einen langen dunklen Mantel gehüllten alten Mann, der sich auf einen Stock stützte und unbeschreiblich traurig wirkte.
»Zufällig mischt er unter anderem im Ölgeschäft mit«, spricht Marino weiter, während wir im Schneckentempo über die Brücke fahren. Die tiefstehende Sonne scheint uns genau ins Gesicht, so grell, als würde sie von einem Brennglas verstärkt.
»Hat Lucy das rausgekriegt?«
»Wichtig ist nur, dass es stimmt«, entgegnet er. »Und eine Pipeline von Alberta nach Texas wäre eine große Sache für die Ölindustrie. Sie baut fest darauf, hat viel Geld investiert und rechnet mit Gewinnen in Milliardenhöhe.«
»Weißt du, wie viele Mineralölkonzerne es auf der Welt gibt?«, wende ich ein.
Die Information stammt mit Sicherheit von Lucy. Und bestimmt hat sie herausgefunden, dass Marino letzte Nacht im CFC geblieben ist, weil sie sich irgendwann auf die Suche nach ihm gemacht hat. Vielleicht ist sie ja zu ihm gegangen, um mit ihm zu reden, und hat ihn trinkend und dösend auf seinem aufblasbaren Bett angetroffen. Keine Ahnung. Also versuche ich die Ereignisse nach dem Eingang der anonymen E-Mail um halb sieben zu rekonstruieren.
Nachdem Benton und ich die Sache besprochen hatten, habe ich die Polizei in Grande Prairie angerufen und wurde mit einem Ermittler Glenn von der Royal Canadian Mounted Police verbunden, der das Verschwinden von Emma Shubert im August untersucht. Was mir dabei am meisten auffiel, war, wie zurückhaltend er auf mich wirkte. Ich habe mich gefragt, was das wohl zu bedeuten haben könnte, und es auch Lucy gegenüber erwähnt, als ich ihr am Telefon von der Mail erzählt habe.
Dr. Shubert war auf die Rekonstruktion von Dinosaurierskeletten spezialisiert,
erklärte mir Ermittler Glenn, als wolle er andeuten, jemandem, der in der Lage ist, Abgüsse und anatomisch korrekte Nachformungen von Knochen in einem Labor anzufertigen, seien auch andere Fälschungen zuzutrauen. Ein abgetrenntes Ohr zum Beispiel.
»Die Pipeline hätte großen Einfluss auf den weltweiten Ölpreis«, spinnt Marino sein Netz weiter, ein Netz, mit dem er Luke Zenner einfangen will.
»Ganz bestimmt hätte sie das«, erwidere ich.
»Das ist ein Milliardengeschäft.«
»Es würde mich nicht wundern.«
»Was macht dich so sicher, dass es da keine Verbindung gibt?« Beim Fahren wirft er mir einen Blick zu.
»Dann erkläre mir bitte, was der Umstand, dass Günter Zenner unter anderem am Ölgeschäft beteiligt ist, mit Emma Shuberts Verschwinden und der Mail an mich zu tun haben könnte.« Ich nehme kein Blatt vor den Mund.
»Vielleicht ist sie ja freiwillig untergetaucht, weil sie mit den Leuten, die das große Geld haben, unter einer Decke steckt. Und das Foto von dem Ohr und das Video hat man dir geschickt, damit wir sie für tot halten.«
»Das ist doch völlig aus der Luft gegriffen.«
»Ganz gleich, was passiert, du setzt dich weiter für ihn ein«, entgegnet Marino. »Und das ist es, was Lucy und mir Sorgen macht.«
»Seid ihr zwei die ganze Nacht aufgeblieben, um diese Teilchen mit Gewalt in ein von euch zusammengeschustertes Puzzlespiel zu zwängen? Ist es dir wirklich so wichtig, dass ich ihn rauswerfe?«
»Ich bitte dich doch nur, die Dinge sachlich zu betrachten, Doc«, antwortet Marino. »So schwierig es in dieser Situation auch sein mag.«
»Ich bemühe mich immer, sachlich zu sein«, erwidere ich ruhig. »Das Gleiche empfehle ich auch dir und allen anderen.«
»Ich weiß, wie gut du mit Anna befreundet warst, und ich hatte sie auch sehr gern. Damals in Richmond gehörte sie zu den wenigen Leuten, bei denen es mich wirklich gefreut hat, dass du ihnen vertraust und deine Zeit mit ihnen verbringst.«
Als ob ich mir meine Freunde von Marino aussuchen ließe.
»Doch ihre Familie hat eine zwielichtige Vergangenheit, auch wenn ich dich nur ungern daran erinnere«, fügt er hinzu. »Das Haus der Familie Zenner wurde während des Krieges von den Nazis besetzt.«
Ich weiß genau, worauf er hinauswill. »Das macht Anna und ihre Familie, einschließlich Luke, noch lange nicht
zwielichtig.
«
»Tja, die blonden Haare und die blauen Augen. Das spricht doch Bände.«
»Bitte red nicht solches Zeug.«
»Wer wegschaut, ist genauso schuldig wie die miese Verbrecherbande
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