Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)

kilometerlange Kabelstränge, Kameras und RFID -Empfänger, die jeden aufnehmen, der hier vorbeikommt, die Lebenden wie die Toten.
    Das runde Gebäude unseres Instituts wurde von einem Biotech-Unternehmen errichtet, das kurz vor Abschluss der Bauarbeiten Konkurs anmelden musste. Und so haben wir das seltene Glück, dass der Originalgrundriss unseren Anforderungen optimal entspricht. Eigentlich ist das Gebäude der Traum jedes Rechtsmediziners. Wir schauen durch energieeffiziente Solarfenster nach draußen, durch die jedoch niemand hineinsehen kann. Eine Hochleistungs-Klimaanlage regelt die Raumtemperatur so perfekt, dass wir hier Wetter nach Maß haben. Lufttrocknungsgeräte saugen die Feuchtigkeit aus der Luft, die dann gekühlt wird, um Kondenswasser und somit ein lästiges Phänomen namens
indoor rain
zu verhindern, während Roboter und HEPA -Schwebstofffilter Keime, Chemiedämpfe und die damit einhergehenden üblen Gerüche absorbieren.
    Im CFC geht es hygienischer zu als in so manchem Krankenhaus, und das Labor für Gewebeproben, an dem ich gerade raschen Schrittes vorbeieile, ist hundertmal steriler als ein durchschnittlicher OP . Für hirntot erklärte Patienten können, noch an die lebenserhaltenden Maschinen angeschlossen, hergebracht werden, damit wir ihnen Augen, innere Organe, Haut und Knochen ohne folgenschwere Verzögerungen entnehmen können. Die Toten helfen den Lebenden und umgekehrt. In meinem Beruf nehmen Entwicklungen, anders als ich früher einmal geglaubt habe, keinen geradlinigen Verlauf, sondern ähneln eher einem Kreis – so wie der Flur, dem ich nun folge. Als Nächstes komme ich an der ID -Abteilung vorbei und betrete dann die geräumig angelegte Radiologie, um nachzusehen, ob meine Assistentin Anne da ist.
    Ihr Stuhl ist vom Tisch abgerückt und umgedreht, als sei sie gerade aufgestanden. Auf einem Flachbildschirm leuchten 3 -D-Aufnahmen eines Kopfes und Brustkorbs auf, wo weiße Stellen auf frische Einblutungen in Gehirn und Lunge hinweisen. Die in einem helleren Weiß dargestellten Knochen zeigen einen Schädelbasisbruch, der bis in die Nebenhöhlen reicht, sowie Skapulafrakturen und Rippen, die so zerschmettert sind, dass sie sich von der Brustwand gelöst haben. Der Treppensturz von heute Morgen. Howard Roth, wie ich der Aufschrift seiner CT -Aufnahmen entnehme. Ein zweiundvierzigjähriger schwarzer Mann aus Cambridge, angeblich die Kellertreppe hinuntergefallen. Seine Leiche wurde gestern am späten Nachmittag gefunden.
    Dafür habe ich jetzt keine Zeit.
    Aber die Neugier siegt. Ich klicke weitere Bilder an und betrachte den Körper aus verschiedenen Perspektiven und von innen nach außen. Die grauen Schatten von Organen und Muskeln werden dort leuchtend weiß dargestellt, wo Blutungen stattgefunden haben. Wo Luft eingeschlossen ist, sind sie dunkel. Dann sehe ich einen Strahlenkranz und Wischspuren, die einen hohen Wert von beinahe 4000 auf der Hounsfield-Skala haben. Dichtes Metall, möglicherweise Blei. Aller Wahrscheinlichkeit nach die Fragmente eines alten Geschosses, stecken geblieben im weichen Gewebe an der linken Hüfte und noch weitere hinten in seinem rechten Oberschenkel. Daraus lassen sich zwar Rückschlüsse auf das Leben dieses Mannes ziehen, allerdings nicht auf seinen Tod. Nur dass diese massiven inneren Verletzungen so gar nicht zu einem simplen Treppensturz passen wollen.
    Multiple Rippenbrüche wie diese entstehen zumeist durch Quetschungen, zum Beispiel, wenn jemand unter einer Maschine begraben oder von einem Auto überrollt wird. Außerdem ziehen sich Leute, die auf den Hinterkopf fallen, dabei nur selten einen Schädelbasisbruch zu. Sie haben auch keine Schädelknochenfraktur am
Foramen magnum,
das ist das Loch unten am Schädel. Als ich weitere Bilder durchschaue, die Ganzkörperaufnahmen zeigen, entdecke ich keine frischen Verletzungen an Armen, Händen, Becken oder unteren Extremitäten.
    Hinter einer Scheibe aus Bleiglas zeichnet sich die Silhouette des riesigen CT -Geräts weißlich im Dämmerlicht ab. Es ist niemand da, weshalb ich annehme, dass Anne vermutlich zum Kaffeeholen oder auf die Toilette gegangen ist. Also schreibe ich ihr einen Zettel, ich wolle die Leiche aus der Massachusetts Bay später untersuchen und brauchte zuerst ein paar CT -Aufnahmen, und lege ihn ihr auf die Tastatur.
    Wir sollten über Howard Roth sprechen,
füge ich als PS hinzu.
Unklare bzw. fehlende Gesichtsverletzungen. Brauche komplette Vorgeschichte und Details vom Fundort.