Knochenbrecher (German Edition)
Tante Hedda überhaupt hatte sterben müssen, wenn es der Täter auf das irgendwo versteckte Geld abgesehen hatte. Ein simpler Einbruch oder ein kräftiger nächtlicher Spatenstich hätten es doch auch getan.
»Weil der Täter das Versteck erst aus Tante Hedda hat herausholen müssen«, dachte Greven laut.
»Was für ein Versteck?«
»Tante Heddas Sparstrumpf. Das wäre eine Erklärung für das Stöhnen, das ich gehört habe. Der Täter hat Tante Hedda den Arm umgedreht oder so etwas in der Art, um das Versteck zu erfahren. Anschließend hat er sie umgebracht, um nicht von ihr identifiziert werden zu können. Du hast recht, das wäre tatsächlich eine Möglichkeit. Tu mir einen Gefallen und ruf Peter an. In der Dienststelle. Das Haus und das Grundstück müssen rund um die Uhr bewacht werden, und zwar so lange, bis wir diese Möglichkeit geklärt haben«, sagte Greven, der jetzt gerne ein Glas an den Mund geführt hätte. Seine Zunge, die inzwischen fast wieder auf Normalgröße geschrumpft war, registrierte eine plötzliche und nur schwer zu tolerierende Trockenheit.
»Warum rufst du ihn nicht selber an?«
»Weil ich im Moment auf ein Stundengespräch keine Lust habe. Schon gar nicht in der Wanne. Sag ihm, dass es dringend ist, und dass ich im Moment zu beschäftigt bin.«
Während Mona eine Grimasse schnitt, ganz so, als würde sie es bereuen, ihren Lebengefährten auf diese Idee gebracht zu haben, und widerwillig das Bad verließ, um Peter Häring anzurufen, dachte sich Greven zurück an den Tatort. Es war das erste Mal, dass er Zeuge eines Mordes geworden war. Derart nahe war er dem extremsten aller sozialen Kontakte, der seinen Beruf überhaupt erst erforderlich machte, noch nie gewesen. Diesmal hatte ihn sein Knie, dem nicht ohne Ironie immer wieder einmal eine Art Mordfühligkeit unterstellt wurde, so wie andere Menschen eine Wetterfühligkeit besaßen, direkt zum Tatort geführt. Tante Heddas scharfsinniger Blick, mit dem sie ihn taxiert hatte, tauchte vor ihm auf. Ihre lebendigen und gar nicht alten Augen, die Minuten später starr und ohne jede Aura auf die ausgetretenen Dielen gerichtet gewesen waren. Der charismatische Blick ist ein Teil ihres Kapitals gewesen, dachte er, dieser Blick hat ihren Patienten Erfahrung und analytische Fähigkeiten signalisiert. Im Mittelalter hätte er sie wahrscheinlich das Leben gekostet. Auch vor Ostfriesland hatte der Hexenwahn keinen Halt gemacht. Erst vor ein paar Wochen hatte Greven von einem Hexenprozess gelesen, der 1590 in Pewsum stattgefunden hatte. Für einen Moment griffen seine Synapsen diese Assoziation auf und konstruierten vor dem Hintergrund des weltweit boomenden religiösen Fanatismus ein entsprechendes Motiv, das er aber gleich wieder kopfschüttelnd verwarf.
Dafür kamen ihm die Haare in den Sinn, die selbst keinen ergaben. Abgeschnittene Haare, verschiedenfarbige noch dazu. Tante Hedda hatte einfach, fast ärmlich gelebt, ihre Möbel waren alt, doch das Haus war sauber. Von ihrem Fußboden hätte man jederzeit essen können. Die Haare mussten also frisch sein. Nichts deutete darauf hin, dass die Haare bei irgendeiner ihrer Therapien eine Rolle gespielt hatten. Natürlich konnte er die Alibis sämtlicher ostfriesischer Friseure überprüfen. Doch Greven glaubte nicht an diese Lösung, nur daran, dass der Täter diese Haare verloren hatte. Auch das Streichholzbriefchen konnte nur von dem Täter stammen, denn Hansen hatte es auf der Chaiselongue gefunden, Heddas Behandlungsliege. Und die Quittung über das Buch für vierzehn neunzig, dass sich der Käufer gleich dreimal besorgt hatte. Da es in dem einzigen Supermarkt seines Heimatdorfes nur eine sehr bescheidene Auswahl an Büchern zu kaufen gab, vor allem Taschenbücher für kleine Fluchten am Deich oder touristisch schwer verwertbare Regentage, tippte er auf den großformatigen Bildband über Greetsiel.
Mehrfach versuchte er, die Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen, suchte nach einer Geschichte, einer Erzählung, wie es die Philosophen nannten, in der sein heutiges Erlebnis und die wenigen Indizien einen plausiblen Auftritt hatten. Jeder dieser Versuche scheiterte schon im Ansatz, die Lücken waren einfach zu groß, die Zusammenhänge zu sehr verborgen. Ohne das noch zu recherchierende Umfeld, ohne Nachbarn, Feinde und Verwandte, ohne den Verbleib ihres Vermögens war sein Spiel vergebens.
Nicht zum ersten Mal beneidete er fiktive Kollegen wie den betagten Sherlock Holmes oder den aktuellen
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