Knochenerbe
auf einem Junggesellinnenabschied begegnet.“
„Stimmt! Das ist lange her, was? Wessen Party war es doch noch gleich?“
„Kommen Sie doch bitte rein. War das nicht Aminas Party, nachdem sie so überstürzt geheiratet hatte?“
„Das kann sein. Ich habe damals im Geschäft von Aminas Mutter gearbeitet, deswegen hat sie mich eingeladen. Jetzt arbeite ich bei Marcus Hartfield.“
Marcus Hartfield war der angesagte Klamottenladen Lawrencetons.
„Deswegen laufe ich heute auch so ungepflegt herum“, erklärte Carey lachend. „Ich habe es manchmal so satt, mich schick anzuziehen.“
„Aber Ihre Nägel sehen fantastisch aus“, lobte ich fasziniert. Mich beeindruckte jeder, der es schaffte, lange Nägel zu tragen und dafür zu sorgen, dass sie immer perfekt gepflegt und lackiert sind. Allerdings konnte ich mich gerade nicht auf Careys Nägel konzentrieren, wollte doch mein Blick immer wieder hinüber zur Fensterbank huschen, woran ich ihn praktisch mit Gewalt hindern musste. Ich hatte Carey zur Couch gewinkt, sodass sie halb mit dem Rücken zur Fensterbank saß, wenn sie sich so drehte, dass sie sich mit mir unterhalten konnte. Ich selbst hatte mich in den Sessel gesetzt.
„Meine Nägel? Die sind nicht echt“, gestand Carey ehrlich und warmherzig. „Meine eigenen Nägel brechen ständig, oder ich reiße sie mir ein. Dann waren Jane und Sie also sehr gute Freundinnen?“
Der plötzliche Themenwechsel überraschte mich. Carey war neugierig, was eigentlich nur zu verständlich war: Meine Nachbarn gehörten eindeutig nicht zu der zugeknöpften, Abstand wahrenden Sorte, wie man sie in Großstädten antraf.
„Sie hat mir ihr Haus hinterlassen“, entgegnete ich. Das sagte hoffentlich schon alles.
Richtig: Nach dieser klaren Aussage fiel Carey nicht mehr ein, wie sie mich weiterhin nach der genauen Art meiner Beziehung zu Jane aushorchen konnte.
Dafür hinterfragte ich unterdessen die Beziehung, die mich mit Jane verbunden hatte, und war das angesichts des kleinen Problems, das sie mir in ihrer Fensterbank zurückgelassen hatte, denn ein Wunder?
„Haben Sie denn vor, hier zu leben?“ Carey hatte sich wieder gefangen und konterte mit einer noch direkteren Befragung.
„Ich weiß nicht.“ Das ließ ich stehen, ohne etwas hinzuzufügen oder Erklärungen abzugeben. Carey Osland war mir sympathisch, aber in jenem Moment wollte ich mit dem Ding in der Fensterbank allein sein.
„Na ja …“ Carey holte tief Luft, um ganz langsam wieder auszuatmen. „Da mache ich mich wohl lieber für die Arbeit fein.“
„Danke, dass Sie vorbeigeschaut haben“, sagte ich mit so viel Wärme, wie ich aufzubringen vermochte. „Ich bin sicher, wir sehen uns häufiger, sobald ich hier alles etwas im Griff habe.“
„Wie gesagt, ich bin nebenan, falls Sie etwas brauchen. Kommen Sie einfach vorbei. Meine Kleine ist bis zum Wochenende im Ferienlager, ich bin ganz allein.“
„Herzlichen Dank. Gut möglich, dass ich auf Ihr Angebot zurückkomme.“ Wahrscheinlich merkte man mir an, dass ich keine längere Unterhaltung wünschte und nur hoffte, meine Besucherin würde bald gehen. Um diesem Eindruck entgegenzuwirken, versuchte ich, Wohlwollen und die Bereitschaft zu guter Nachbarschaft auszustrahlen.
Ich konnte nur hoffen, dass Carey den Seufzer der Erleichterung nicht mehr mitbekam, den ich ausstieß, kaum hatte ich die Tür hinter ihr geschlossen und wieder verriegelt.
Wieder allein sank ich erneut auf den Sessel und barg das Gesicht in den Händen, um mich ganz und gar aufs Nachdenken konzentrieren zu können.
Die süße, zerbrechliche, silberhaarige Jane, Schulbibliothekarin und regelmäßige Kirchgängerin, hatte jemanden umgebracht und den Schädel ihres Opfers in der Fensterbank ihres Wohnzimmers versteckt. Dann hatte sie diese Fensterbank mit Teppichboden belegen lassen, damit nur niemand auf die Idee kam, dort nachzusehen. Der Teppich war nicht neu, obwohl er sich in einem vorzüglichen Zustand befand. Jane hatte eine ganze Zeit lang mit einem Schädel in der Fensterbank ihres Hauses gelebt.
Allein an diesen Gedanken vermochte ich mich nicht so ohne Weiteres von jetzt auf gleich zu gewöhnen.
Eigentlich hätte ich nun die Polizei anrufen müssen. Meine Hand hatte sich auch schon nach dem Hörer ausgestreckt, als mir zwei Dinge einfielen: Das Telefon war nicht angeschlossen, und ich schuldete Jane etwas. Ich schuldete ihr sogar ziemlich viel.
Jane hatte mir dieses Haus, ihr Geld und den Schädel
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