Knochenfinder
Volleyballturnier der Neuntklässler und dem zweiten Platz seiner Klasse; Ute freute sich über die Tomaten aus dem eigenen Garten und forderte ihre Männer immer wieder auf, noch ein kleines Stück vom selbst gezüchteten Gemüse zu essen. Doch Niklas blieb ungewöhnlich still, und auch sein Vater war tief in Gedanken versunken.
Während er aß, traf Winterberg endlich eine Entscheidung. Er würde später Ute mitteilen, dass er dem Test zustimmte. Man konnte das Vorgehen der Schule als maßlos übertriebene Einmischung empfinden – aber man konnte sie auch als Chance sehen, Niklas’ Unschuld zu beweisen. Ute hatte recht.
Plötzlich klingelte sein Handy. Winterberg stand auf, tupfte sich den Mund mit einer Serviette sauber und nahm das Telefon aus der Hosentasche. Ein Blick auf das Display riss ihn schlagartig aus seinen Grübeleien. Lorenz. Es kam äußerst selten vor, dass er vom Kollegen zu Hause angerufen wurde. Das war kein gutes Zeichen.
»Ja, Lorenz, was gibt’s?«, meldete er sich und trat in den Flur, um ungestört reden zu können.
»Hör zu: Die GS 4 bearbeitet einen Fall, bei dem ein Knochen in einer Geocachingdose im Wald versteckt gewesen ist. Du hast bestimmt schon davon gehört, oder?«
Winterberg brummte unwirsch. »Ja, stand ja auch in der Zeitung. Sollen wir das jetzt etwa auch übernehmen, oder was?« Er hatte keine Lust, sich um solchen Kram zu kümmern, schon gar nicht jetzt. Schließlich stand noch ein schwerwiegendes Gespräch mit Ute an. Außerdem – wie würde sie wohl reagieren, wenn er jetzt noch ins Büro führe?
Doch Lorenz’ Stimme brachte ihn endgültig auf den harten Boden der Realität zurück.
»Warte, bis ich fertig bin«, entgegnete Lorenz. »Die Kollegen haben es wohl schon eine Weile vermutet, aber erst vorhin kamen die Daten aus dem Labor. Jetzt ist es amtlich: Das ist kein Knochen von einem Tier – sondern ein Finger von einem Menschen. Und jetzt halt dich fest: Heute haben Cacher noch einen gefunden! Zwei menschliche Finger, die in Dosen im Wald herumlagen.«
Winterberg fehlten die Worte. Zähe Sekunden verrannen, in denen keiner von beiden ein Wort sprach. Winterberg atmete schließlich tief durch und zählte im Geiste bis fünf, ehe er seine nächste Frage stellte. Seine Hand umklammerte das Handy so fest, dass die Finger zu schmerzen begannen.
»Lorenz, woran denkst du dabei?«
»An unseren vermissten Schüler«, antwortete Lorenz mit heiserer Stimme. »An René Staudt. Ich glaube, dass unser Fall eine ganz neue Dimension bekommen könnte – und dass wir den Jungen so rasch wie nur möglich finden sollten. Vielleicht wäre es gut, du würdest heute Abend noch herkommen ...«
»Du hast recht. Ich komme sofort zu dir ins Büro.«
Er schlüpfte in seine Camelboots und nahm den Schlüssel aus der Schale. Dann ging er in die Küche, in der seine Familie einträchtig am Tisch saß und die letzten Tomaten verzehrte. Seine Söhne grinsten ihn ahnungslos an, doch Utes Lächeln erstarb auf ihren Lippen, als ihr Blick auf sein Schuhwerk fiel.
»Musst du noch einmal ins Büro?«, fragte sie.
Winterberg nickte. »Ja. Und es wird spät werden. Wir sehen uns morgen.« Er warf seiner Frau eine Kusshand zu, dann verließ er rasch das Haus.
Am Horizont zuckte Wetterleuchten über den Himmel.
Kapitel 18
Nach einer scheinbaren Ewigkeit ließ Simon sie los. Irgendwo in der Nähe hämmerte ein Specht, leichter Wind rauschte in den Bäumen. Nataschas Lippen fühlten sich weicher an. Und irgendwie größer. Simon nahm ihre Hand und zog sie schweigend weiter.
Der Rand des Waldes lag im Schatten, dunkle Kühle umfing sie. Sie beobachtete Simon aus den Augenwinkeln und versuchte seine Absichten zu ergründen. Würden sie jetzt einfach weitergehen, das Versteck suchen und dann nach Hause fahren, als wäre nichts gewesen? Oder war dies erst der Anfang von etwas Größerem?
Simon blieb stehen und blickte auf das GPS-Gerät. »Es ist dreiundfünfzig Meter rechts von uns. Luftlinie.«
Natascha fiel auf, dass er es vermied, ihr in die Augen zu sehen. Er schaute um sich. »Da ist ein Trampelpfad zwischen den Bäumen, siehst du? Den nehmen wir.«
Sie schritten über platt getretene Blätter und zerknickte Zweige; ab und an war ein leises Rascheln im Dickicht zu hören. Gestrüpp kratzte an den Oberschenkeln; Dornen hakten sich in der Hose fest und schnitten beim Weitergehen in die Beine. Bald mussten sie hintereinandergehen, weil der Pfad so schmal war.
Simon drehte sich zu ihr
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