Knochenfinder
wie gelähmt gewesen, sein Körper ebenso wie seine Gedanken. So wie jedes Mal, wenn er die Spritze bekam. Wie zuvor hatte der Mann seine Hand versorgt, mit Salben eingerieben und mit einem frischen Verband umwickelt. Doch diesmal hatte René sich getraut hinzuschauen. Er hatte gesehen, wie sein Peiniger den Finger in eine rote Kühlbox legte. Vorher hatte er diesen abgetrennten Teil seines Körpers mit einem weißen Tuch abgetupft. So lange, bis kein Blut mehr rauslief. Der Fingernagel sah gelblich und matt aus, irgendwie anders als sonst. Den Anblick würde René niemals vergessen. Der Finger wirkte seltsam fremd, als wäre es gar nicht seiner. Aber eigentlich gehörte er ihm ja auch nicht mehr. Jetzt war der Finger ein lebloses Stück Fleisch, das sich nicht mehr krümmen oder strecken würde. Totes Gewebe, mehr nicht.
Doch mit der Erkenntnis, dass dieser Finger niemals wieder ein Teil seines Körpers sein würde, machte sich auch eine seltsame Leere in ihm breit. Sie ging tiefer als alles, was er bisher gefühlt hatte.
Nachdem der Plastikverschluss der Kühlbox eingerastet war, drehte sich sein Peiniger zu ihm um. Ein Lächeln glitt über das Gesicht des Mannes, und dabei tätschelte er Renés Wange.
»Du sollst mir schließlich nicht sterben, ich brauche dich noch«, sagte er mit sanfter Stimme.
Aber es klang nicht beruhigend.
Kapitel 20
Natascha öffnete die Augen. Sie glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Da war es wieder. Ihr Handy klingelte!
Schnell warf sie die Bettdecke zurück und stolperte in die Küche. Dort lag es auf dem Tisch, neben den Kaffeetassen von gestern.
»Hallo?«, meldete sie sich mit schlaftrunkener Stimme.
»Entschuldige, wenn ich dich wecke, aber es ist dringend. In einer Stunde treffen wir uns zu einer Sitzung im Besprechungsraum. Frühstücke ordentlich, der Tag könnte lang werden.«
Nun war sie hellwach. »Lorenz, was ist denn los?«, fragte sie und sah auf die Uhr. Es war gerade einmal sechs Uhr.
»Komm einfach, so schnell du kannst. Wir haben Neuigkeiten.«
Die frühe Uhrzeit und etwas in Lorenz’ Stimme beunruhigten sie. Sie klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und eilte ins Bad, um sich Zahnbürste und Zahnpasta zurechtzulegen. »Was für Neuigkeiten?«
Lorenz atmete laut in den Hörer, sodass es rauschte. »Es sind schlechte Neuigkeiten.« Seine kleine Sprechpause reichte aus, die Haut an Nataschas rechter Seite prickeln zu lassen. Wie immer, wenn Furcht sie überkam.
»Erzähl schon! Ich bin schon fast auf dem Weg ins Büro.«
»Wie du ja schon weißt, wurden in zwei Geocachingverstecken hier in der Nähe ... hmm ... Knochen gefunden. Bisher hieß es immer offiziell, sie würden von Tieren stammen. Jetzt wissen wir es aber besser: Es sind Finger eines Menschen.«
Natascha riss die Augen auf. Sie hoffte, sich verhört zu haben. »Was?«
Ihr Spiegelbild warf ihr eine Grimasse zu: ein gelbliches Gesicht mit aufgerissenen, geäderten Augen. Das Bild war genauso irreal wie das, was sie gerade gehört hatte. Doch was Lorenz anschließend mitteilte, entsetzte Natascha noch weit mehr.
»Und wir können nicht ausschließen, dass es sich um die Finger von René Staudt handelt.«
Natascha hielt sich mit einer Hand am Waschbecken fest. Einen Moment lang fehlten ihr die Worte. »Ich komme gleich!«, rief sie schließlich ins Telefon.
Lorenz beendete die Verbindung.
Sie ließ sich auf den Rand der Badewanne nieder und starrte ihr Handy an. Natascha dachte an das kurze Geocachingerlebnis mit Simon, das so abrupt durch den Platzregen beendet worden war. Er hatte sie in strömendem Regen nach Hause gefahren, ihr noch einen schönen Abend gewünscht und ihr das Versprechen gegeben, ihre Geocachingtour nachzuholen. Gestern noch war sie enttäuscht gewesen, weil sie sich mehr von dem Treffen erhofft hatte. Aber mit einem Mal sah die Sache ganz anders aus. Womöglich wäre sie ohne den Regenguss plötzlich zur Zeugin in ihrem eigenen Fall geworden.
Sie löste sich aus ihrer Starre und eilte ins Schlafzimmer, um sich sofort anzuziehen. Ihre Gedanken rasten, Bilder zogen an ihr vorüber. Während sie in ihre Chucks schlüpfte, steckte sie eilig ein Kaugummi in den Mund. Das schlechte Gewissen wegen der nicht geputzten Zähne ignorierte sie, für so etwas hatte sie nun wirklich keine Zeit mehr. Sie griff sich ihren Rucksack und verließ die Wohnung.
Natascha hatte sich beim Bäcker noch schnell ein belegtes Brötchen geholt und war dann zur Polizeiwache
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