Knochenfinder
ging zu ihr. Sie saß am Küchentisch und schnitt mit einem Messer Möhren in hauchdünne Streifen. Vor ihr lag ein Haufen Gemüseabfall auf einer durchweichten Zeitung. Der Anblick erweckte in Winterberg alte Erinnerungen.
»Hallo, Ute, kann ich dir helfen?«, fragte er.
»Hallo, Hannes. Du kannst die Gurke für den Salat schälen.« Während sie sprach, sah sie nicht von ihrer Arbeit auf, sondern konzentrierte sich ganz auf das Schneiden der Möhren.
Winterberg nahm die Gurke und begann, mit einem Schälmesser die dunkelgrüne Schale zu entfernen. »Wann kommt Niklas nach Hause? Ich muss mit ihm reden.«
»Über das Drogenthema?«
Endlich sah Ute ihn an. Winterberg glaubte, eine leichte Unsicherheit in ihrem Blick zu erkennen.
»Auch«, antwortete er. »Aber zuerst über etwas anderes. Ein Junge aus Niklas’ Schule ist von zu Hause abgehauen; möglicherweise ist ihm was Schlimmes passiert. Ich wüsste gern, ob die beiden sich kennen.«
Ute hob eine Augenbraue an. »Abgehauen? Wer?«
»Er heißt René Staudt. Kennst du ihn? Hat Niklas mal etwas von ihm erzählt?«
Ute blickte nachdenklich auf die Möhren, die in einer Reihe nebeneinanderlagen. »Ich glaube nicht. Der Name sagt mir jedenfalls nichts.« Sie nahm eine der Möhren und drehte sie in der Hand, ohne sie wirklich zu betrachten. »Hast du noch einmal über den Drogentest nachgedacht? Wirst du Niklas die Chance geben, seine Unschuld zu beweisen?«
Winterberg seufzte. Obwohl er lange darüber gegrübelt hatte, war er zu keinem Entschluss gelangt. Egal, wozu er sich entschied, es wäre immer falsch. Wenn Niklas den Test machen und dabei herauskommen würde, dass er Drogen nahm, so wüssten gleich mehrere Kollegen davon. Und undichte Stellen gab es in solchen Fällen immer; irgendjemand würde seinen Mund nicht halten können und es weitererzählen. Könnten sie ihrem Sohn danach jemals wieder glauben, wenn er versicherte, alles wäre in Ordnung? Und wie sollten Ute und er als Eltern mit dem möglichen Drogenkonsum ihres Sohnes umgehen? Misstrauen wäre vorprogrammiert und würde immer wieder die familiäre Atmosphäre vergiften.
Er hatte das Gefühl, die Zustimmung zu dem Test käme einem Eingeständnis ihres Versagens als Eltern gleich. Und Niklas könnte ihnen dann zu Recht vorwerfen, dass sie ihm nicht vertrauten. Vor allem, wenn der Test negativ ausfallen sollte.
Aber konnte er sich wirklich sicher sein, dass dieser Test unnötig war? Und würde sich nicht ein niemals widerlegter Verdacht in ihren Hinterköpfen einnisten und von dort aus sein Gift versprühen, sodass sie jeden Tag aufs Neue zweifelten, ob das Vertrauen in ihren Sohn gerechtfertigt war?
Aber ohne Test gäbe es zumindest kein Gerede.
Ute blickte ihn bekümmert an. »Nun red schon. Ich habe dir gerade eine wichtige Frage gestellt.«
»Ich weiß nicht, ob Niklas den Test machen soll. So, wie du es formuliert hast, klingt es gut. Niklas bekommt die Chance, seine Unschuld zu beweisen, und alles ist in Ordnung. Ich habe nur Angst, falls nichts in Ordnung ist – falls unser Sohn Drogen nimmt oder gar in illegale Geschäfte verwickelt ist und seine Zukunft und seine Gesundheit aufs Spiel setzt.« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, die Gurke hatte er noch immer in der Hand. Als gäbe sie ihm Halt.
Ute sah ihn eindringlich an. »Glaubst du, dass es so kommen wird?«
»Ich weiß nicht, was beim Test herauskommen wird. Mittlerweile halte ich einiges für denkbar. Niklas hat sich in den letzten Wochen verändert; er zieht sich von uns zurück und lässt uns nicht mehr an sich ran. Früher konnten wir teilweise richtig gute Gespräche miteinander führen, aber in letzter Zeit blockt er nur noch ab. Manchmal sitzt er stundenlang vor dem Computer. Und was macht er da? Meistens Gewaltspiele. Wenn ich vom Dienst komme, höre ich bis zum Essen nichts weiter von ihm als dieses Geballer aus dem Rechner. Oder Heavy Metal, und beides ohrenbetäubend laut. Und am Wochenende verlässt er kaum das Haus. Warum trifft er sich nicht mehr mit seinen Kumpels? Marco habe ich schon seit den Osterferien nicht mehr hier gesehen.«
»Vielleicht befindet er sich gerade in einer schwierigen Phase. Vielleicht hat er Liebeskummer und versucht nun, das irgendwie zu verarbeiten.«
Ute spielte noch immer mit der Möhre in ihrer Hand. Es machte ihn rasend, und so waren seine nächsten Worte zorniger als zunächst beabsichtigt.
»Und dazu kifft er sich die Birne zu, und wir warten ab, bis er sich wieder
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