Knochenfinder
befürchten, dass etliche der Kollegen auf den Parkplatz strömen würden, um die Ruhestörung zu beenden. Die Boxen waren den hohen Tönen von Ian Andersons Querflöte zwar nicht gewachsen und schepperten. Doch das war ihm egal: Er musste jetzt nachdenken.
Was wäre, wenn Niklas tatsächlich Drogen nahm – oder sogar verkaufte? Wie sollten sie als Eltern darauf reagieren? Wenn Jugendliche mit glasigem Blick vor seinem Schreibtisch saßen und ihre Unschuld beteuerten, empfand er nur wenig Mitleid und Verständnis. Manche behaupteten, sie seien ungewollt auf die schiefe Bahn geraten? Deren Bahn war schon schief gewesen, bevor sie überhaupt laufen konnten. Und nun sah es auf einmal so aus, als ob sein Niklas aus der Bahn geschleudert würde ...
Die Boxen schepperten weiter, und es klang, als führe er mit seinem Wagen durch eine Waschanlage aus Drahtbürsten. Jetzt hatte er genug: Mit der flachen Hand schlug er gegen den Lautstärkeregler; die Querflöte jaulte noch einmal auf und verstummte dann. Erst jetzt hörte er, dass jemand an die Scheibe klopfte. Winterberg richtete sich auf und sah Jörg Lorenz neben dem Auto stehen.
Er öffnete die Tür. »Lorenz! Was ist los?«
»Es gibt Arbeit. Was machst du eigentlich hier unten?«
»Musik hören. Das hast du doch sicherlich gerade mitbekommen. Was gibt’s? Verfolgungsjagden auf der A45, oder dürfen wir endlich die Autoschieber aus Bulgarien festnehmen?«
Falls Lorenz den Sarkasmus von Winterberg bemerkte, ging er nicht darauf ein. »Wir haben eine Vermisstenmeldung. Ein Schüler.«
Für einen kurzen Moment setzte Winterbergs Herz aus, nur um danach im rasenden Tempo weiterzuschlagen. Sofort fielen ihm seine beiden Söhne ein, und seine Gedanken überschlugen sich. Niklas und Fabian. Waren sie zu Hause? Wohin war Niklas nach dem Streit gegangen? Hatte etwa Ute soeben angerufen?
Doch nach außen hin versuchte er gelassen zu bleiben. »Wie alt?«
»Achtzehn. Ist bei dir alles in Ordnung?« Lorenz kniff die Augen zusammen und sah ihn schräg von der Seite an. »Du sitzt doch sonst nicht hier unten herum und starrst die Wagen deiner Kollegen an.«
Winterberg stieg aus dem Auto und knallte die Tür hinter sich zu. »Schon gut. Lass uns nach oben in mein Büro gehen.«
Sein Ton war schärfer als beabsichtigt. Lorenz musste bemerkt haben, dass er einen wunden Punkt erwischt hatte. Er hatte ein unheimliches Gespür dafür, was in anderen Menschen vorging.
Winterbergs Büro war so klein, dass kein zweiter Schreibtisch hineinpasste, was manchmal recht angenehm war. Vor allem an Tagen wie diesem, an denen er gerne auf Gesellschaft verzichtet hätte. Dann erschien ihm die ehemalige Putzkammer am Ende des Flurs, die man ihm als Büro zugewiesen hatte, wie ein Refugium. Der Raum maß kaum sieben Quadratmeter, war schlauchförmig und eigentlich viel zu dunkel. Das einzige Fenster zeigte auf die vierspurige Hauptstraße, die am Polizeigebäude entlangführte. Die verkehrsgünstige Lage war gut für rasche Einsätze, aber an warmen Tagen ausgesprochen schlecht für die Arbeit in Büroräumen ohne Klimaanlage. Im Sommer standen nur die Optionen »Ersticken« oder »Ertauben« zur Auswahl, und auf beides hatte Winterberg keine Lust. Also ließ er meist die Zimmertür offen, was auch den Vorteil hatte, dass der mausgrau getünchte Raum heller und größer wirkte.
Winterberg quetschte sich hinter seinen Schreibtisch. Da das Möbelstück der Länge nach mitten im kleinen Raum stand, gab es weder davor noch dahinter viel Platz. Deshalb setzten Lorenz und Natascha sich auch nicht, sondern blieben an der gegenüberliegenden Wand stehen.
Lorenz warf eine Mappe auf Winterbergs Computertastatur und informierte seine Kollegen über den neuesten Fall.
»René Staudt, achtzehn Jahre alt. Er ist am Freitag nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Die Eltern waren arbeiten oder anderweitig beschäftigt und haben sich zuerst nichts dabei gedacht, dass sie ihn den ganzen Tag nicht gesehen hatten. Samstags schläft der Junge meistens lange und geht dann zum Fußball. Deshalb haben sich die Eltern erst am Samstagabend, als er nicht zum Essen erschienen war, ernsthafte Sorgen gemacht. Der Vater hat dann ein paar Telefonate geführt. Vom Trainer hat er erfahren, dass René gar nicht beim Fußball war, und das nicht zum ersten Mal. Auch seine Kumpels haben ihn am Wochenende nicht gesehen. Und so haben sich die Eltern am Sonntagvormittag an uns gewandt und den Sohn als vermisst
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