Knochenkälte
Klingelton dringt quer über die Lichtung ganz leise an mein Ohr.
Er hebt ab. »Irgendwas zu sehen?«
»Nein, nichts.«
»Wahrscheinlich wartet das Monster darauf, dass es kälter wird.«
Pike hat recht. Dass Howie aufgekreuzt ist, bedeutet, dass die Bestie bereit ist für ihr nächstes Opfer.
»Und jetzt?«, frage ich.
Bevor Pike antworten kann, höre ich auf einmal Steine knirschen. Ich taumle zurück, den Blick weiterhin auf die Felswand gerichtet. Aber immer noch ist darin keine Öffnung zu sehen.
Kieselsteine regnen von oben herab, gefolgt von leisem Hundegewinsel. Ich schaue nach oben - Masons bleiches Phantom winkt zu mir herunter. Ich winke zurück.
»Das war nur Mangy«, sage ich zu Pike. »Er ist auf Position.«
»Okay. Hoffentlich landet er nicht auf meinem Kopf, wenn er abstürzt. Danny, geh mal ein Stück näher an die Felswand
ran. Damit die Bestie dich erschnuppern kann und weiß, dass du da bist.«
»Meinst du, die kann durch Stein riechen?«
»Howie hat gesagt, sie kann euch irgendwie spüren. Über den Geruch, irgendwelche mentalen Vibrationen oder was weiß ich. Auf jeden Fall - wenn du nah genug rangehst, wird sie dich spüren. Versuch’s mal.«
Tolle Idee! Ich soll mal eben den Kopf in das Maul des Löwen stecken, um zu gucken, ob er zubeißt.
»Ash und ich warten hinter dem Felsen, okay?«
»Ja. Vielen Dank auch.«
Was mache ich hier eigentlich? Wie konnte ich das alles für eine gute Idee halten? Oder hat mir der Schlafmangel so zugesetzt, dass ich bisher noch gar nicht richtig darüber nachgedacht habe?
Zum Umkehren ist es jetzt zu spät. Die Bestie soll mich erschnuppern? Der Gestank, der von mir ausgeht, könnte auf jeden Fall stark genug sein, um durch Stein zu dringen. Mein Hirn, mein Körper rufen mir zu, wegzurennen, aber ich schiebe mich an die Felswand heran.
Ich bin noch keine drei Schritte weit gekommen, als ich wieder Steine knirschen höre. Ich schaue zu Mason nach oben, aber dann erhasche ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung direkt vor mir. Ein Stück Fels hat sich verschoben.
Ich taumele zurück, ohne die Augen von dem sich verbreiternden Schatten abzuwenden. Mein Handy fällt klappernd zu Boden. Beinahe wäre ich auf den Hintern gefallen, als ich mit einer Ferse an einer Kufe des Schneemobils hängen bleibe.
Ich drehe mich weg, um schneller wegzukommen. Aber meine Knie versagen mir den Dienst, sodass ich fast zu Boden gehe. Es ist, als würden meine Füße in unsichtbarem Zement stecken. Etwas erschauert in meinem Schädel. Eiszapfenfinger greifen in meinen Kopf, lassen mich auf der Stelle gefrieren.
Mein Kopf wirbelt herum. Die Bestie kommt aus dem Tunnel heraus, und als sie sich zu voller Größe aufrichtet, ragt sie Furcht einflößend vor der Felswand auf. Die silbern schimmernden Augen fixieren mich.
Panik rauscht durch meinen Körper. Ich beuge mich nach hinten und ramme mir eine Faust in die rechte Kniekehle. Das Bein ist so steif, dass ich mehrmals zuschlagen muss, bis es einknickt.
Dann hechte ich auf das Schneemobil zu und greife hastig nach dem Lenker. Mit letzter Kraft ziehe ich mich daran hoch und drehe das Gas auf.
Mit einem Satz, der mich beinahe abwirft, erwacht die Yamaha zum Leben und stürzt nach vorn. Ich jage den Motor hoch, halte auf die Lücke zum See zu, ohne mehr einen Gedanken an den eisigen Hang zu verschwenden. Ich fliege den Hügel hinunter, eine Sekunde schwebe ich in der Luft, bevor ich auf das Eis knalle. Mein Brustkorb prallt vornüber auf den Lenker, aber mit der Rechten drehe ich weiter das Gas hoch. Ich ziehe die Maschine nach links, den Blick wie ein Zoom auf den See gerichtet, der zwischen den aufragenden Felswänden durchschimmert.
Der Lärm und das Zittern des Schneemobils rütteln mein Gehirn durch, sperren alle Gedanken aus, die nicht die Meinen sind.
Seitlich fallen die Felswände zu niedrigen Hügeln ab. Ich riskiere einen Blick zurück.
Das gibt’s doch nicht! Keine fünfzehn Meter entfernt hetzt die Bestie hinter mir her, in vollem Galopp. Jeder Fuß landet sicher auf dem rutschigen Untergrund, Dampfwolken steigen aus den Nüsternschlitzen auf.
Ich zwinge mich, wieder nach vorn zu schauen, und beuge mich tief hinunter, um den Windwiderstand zu senken. Das Skelett der Eisfabrik blitzt vorbei. Ich kann die Lichter des Jachthafens sehen. Meine Ziellinie. Weit weg, viel zu weit weg.
Das Schneemobil fährt Höchstgeschwindigkeit und ich halte es stur geradeaus. Aber die Bestie hinter mir ist einfach so
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