Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
mit Ryan?
Ryan und ich trafen uns hin und wieder. Wir waren zum Essen gegangen, ins Musée des Beaux-Arts, auf einige Partys, hatten zusammen Tennis gespielt. Er hatte mich sogar zum Bowling überredet.
Waren wir ein Paar?
Nein.
Konnten wir eins werden?
Die Jury kam zu keiner Entscheidung.
Wo standen Ryan und ich? Ich mochte ihn sehr, hatte Respekt vor seiner Integrität, genoss seine Gesellschaft.
Hitze breitete sich über meinen Bauch aus.
Ich fand ihn verdammt sexy.
Warum fühlte ich mich dann zu Galiano hingezogen?
Wieder diese Hitze.
Warum wohl, Flittchen.
Ryan und ich hatten ein Abkommen geschlossen. Nein, kein Abkommen, eine Übereinkunft. Eine stillschweigende Übereinkunft. Frag nichts, erzähl nichts. Die Taktik funktionierte beim amerikanischen Militär, und bis jetzt funktionierte sie auch bei uns.
Außerdem hatte ich nicht vor, mit Galiano etwas anzufangen.
Sieh’s doch mal von der positiven Seite, sagte ich mir. Du hast es weder mit Ryan noch mit Galiano getan. Es gibt nichts zu erzählen.
Das war das Problem.
Nachdem ich mich noch eine halbe Stunde im Bett hin und her geworfen hatte, schliefen meine frustrierte Libido und ich endlich ein.
Das Telefon weckte mich aus tiefem Schlaf. Trübes Licht sickerte durch die Vorhänge, die schlaff vor meinem Fenster hingen.
Dominique Specter klang aufgeregt.
»Haben Sie’s schon gehört?«
»Habe ich.«
Ich schaute zur Uhr. Zwölf nach sieben.
»C’est magnifique. Nicht das Stehlen, natürlich. Aber Chantale geht es gut.« Ihre Stimme klang schrill und angespannt, der Akzent war stärker, als ich ihn in Erinnerung hatte.
»Das ist eine wunderbare Nachricht.« Ich setzte mich auf.
» Oui . Mein Baby ist am Leben.«
»Wissen Sie, ob man Chantale außer dem Ladendiebstahl noch etwas anderes vorwirft?«
»Nein. Wir müssen hin und sie holen.«
Ich wies sie nicht darauf hin, dass ein Richter diesbezüglich anderer Meinung sein könnte.
»Wenn Drogen im Spiel sind, finden wir eine neue Therapie. Eine bessere.«
»Das ist eine gute Idee.«
»Wir werden darauf bestehen.«
»Ja.«
»Auf Sie wird sie hören.«
»Auf mich?«
Plötzlich war ich hellwach.
»Mais oui .«
»Ich fliege nicht nach Montreal.«
»Ich habe in der Maschine heute Nachmittag zwei Plätze gebucht.« Mrs. Specter war eine Frau, die Widerworte nicht oft hörte.
»Ich kann Guatemala jetzt nicht verlassen.«
»Aber ich brauche Sie.«
»Ich arbeite hier an einem Projekt.«
»Ich kann das nicht allein machen.«
»Wo ist Mr. Specter?«
»Mein Gatte ist bei einer Agrarkonferenz in Mexico City.«
»Mrs. Spect–«
»Chantale war an dem Abend, als sie ging, sehr wütend. Sie sagte schreckliche Dinge. Sie sagte, sie wolle mich nie wieder sehen.«
»Ich bin mir sicher –«
»Vielleicht weigert sie sich, mit mir zu reden!«
Probier’s mit Valium.
»Kann ich Sie zurückrufen?«
»Bitte lassen Sie mich nicht im Stich. Ich brauche Ihre Hilfe. Chantale braucht Ihre Hilfe. Sie sind einer der wenigen Menschen, die die ganze Situation kennen.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.« Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
Ich schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante.
Warum eilte der Botschafter nicht sofort herbei, um bei seiner Frau und seiner Tochter zu sein? Die Frau klang völlig außer sich.
Ich starrte eine Abschürfung auf meinem Knie an.
Würde ich mich in einer solchen Situation anders verhalten? Wahrscheinlich, aber das war nicht wichtig.
Ich schlurfte in die Küche, löffelte Kaffee in die Maschine, goss Wasser dazu. Dann holte ich die Donuts heraus und aß einen, während der Kaffee durchlief.
Ich könnte Ryan sehen.
Ich tupfte Puderzucker von der Anrichte, leckte die Fingerspitzen ab.
LaManche wollte meine Meinung zu dem Torso aus Lac des Deux-Montagnes. Sagte, es sei dringend.
Ich stellte mir Chupan Ya vor, dachte an die Skelette, die im FAFG-Labor auf den Tischen lagen. Diese Arbeit war so wichtig. Aber die Opfer waren seit fast zwei Jahrzehnten tot. Wurde ich hier so dringend gebraucht, wie LaManche meine Hilfe brauchte? Da Carlos und Molly nicht mehr dabei waren, mangelte es Mateo jetzt schon an Personal. Aber konnte er nicht für ein paar Tage ohne mich auskommen?
Ich schenkte Kaffee ein, goss Milch dazu.
Ich dachte an die Leiche in dem Graben und empfand die wohl bekannte Traurigkeit. Claudia de la Alda, achtzehn Jahre alt. Ich dachte an die Knochen im Faultank und wurde überwältigt von Schuldgefühlen.
Und
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