Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
hinteren Veranda einer Pizzabude, zehn Meter von meinem Schlafzimmerfenster entfernt. Schreien konnte ihre Partystimmung nicht dämpfen. Oder Drohungen. Oder Flüche.
Ich hatte schlecht geschlafen, mich unter schlaffen Laken hin und her geworfen und war immer wieder von Gelächter, Singen oder wütenden Ausbrüchen geweckt worden. Den Morgen hatte ich mit stechenden Kopfschmerzen begrüßt.
Das Bureau de Coroner und das Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale befinden sich in einem dreizehnstöckigen Glas- und Beton-T in einem Viertel östlich von Centre-Ville. Mit der Provinzpolizei, der Sûreté du Québec, als Hauptnutzer hatte sich im Lauf der Jahrzehnte für das T der Name SQ-Gebäude eingebürgert.
Vor einigen Jahren hatte das Gouvernement du Quebec beschlossen, mehrere Millionen in Strafverfolgung und Forensik zu pumpen. Das Gebäude wurde restauriert, das LSJML wurde vergrößert und zog aus dem fünften in den zwölften und dreizehnten Stock, in Räume, die früher als Arrestzellen gedient hatten. In einer offiziellen Zeremonie wurde der Turm als Édifice Wilfrid-Derome wieder geboren.
Alte Gewohnheiten sind schwer auszurotten. Für die meisten bleibt es das SQ-Gebäude.
Ich verließ den Tunnel bei der Molson-Brauerei, fuhr unter der Jacques-Cartier-Brücke hindurch, sauste über die de Lorimer und schlängelte mich dann durch ein Viertel, in dem weder die Straßen noch die Bewohner schön waren. Dreistöckige Mietshäuser mit briefmarkengroßen Vorgärten und metallenen Wendeltreppen an der Frontseite. Graue Steinkirchen mit silbernen Türmchen. Depanneurs an den Straßenecken. Ein paar Geschäfte mit Schaufenstern. Das Wilfrid-Derome/SQ-Gebäude, das alles überragte.
Nach zehn Minuten Suche fand ich einen Parkplatz, der offensichtlich, dank eines bürokratischen Schlupflochs, legal war, ohne Sondergenehmigung und für die ganze Zeit, die ich hier zu parken beabsichtigte. Ich las noch einmal die monatlichen, stündlichen und täglichen Einschränkungen, parkte ein, nahm Laptop und Aktentasche und ging den Block hoch. Kinder strömten zu zweit und zu dritt in eine nahe Schule, wie Ameisen, die von einer schmelzenden Eiskugel angelockt werden. Frühankömmlinge tummelten sich auf dem Spielplatz, kickten Bälle, übten Seilspringen, schrien oder jagten einander. Ein kleines Mädchen spähte durch das schmiedeeiserne Gitter, die Finger um die Längsstangen geklammert wie das Kind in Chupan Ya. Sie beobachtete mich mit ausdruckslosem Gesicht.
Ich beneidete sie nicht um die nächsten sechs Stunden, so eingesperrt in einem heißen Klassenzimmer, die Sommerferien noch einen ganzen Monat entfernt.
Ich beneidete aber auch mich nicht um den Tag, der vor mir lag.
Ich hatte keine große Lust auf einen mumifizierten Schädel. Ich hatte keine große Lust auf einen verwesenden Torso. Mir graute vor meiner Vermittlerrolle beim Wiedersehen von Chantale und ihrer Mutter. Es war einer dieser Vormittage, an denen ich mir wünschte, ich hätte einen Job bei der Telefongesellschaft angenommen.
Bezahlter Urlaub. Großzügige Sozialleistungen. Keine Leichen.
Ich schwitzte, als ich die Lobby betrat. Die morgendliche Mischung aus Smog, Autoabgasen und dem Cocktail, der aus der Brauerei drang, waren für die Blutgefäße in meinem Hirn nicht gerade heilsam gewesen. Mein Schädel fühlte sich an, als hätte der Inhalt seine Füllgrenze überschritten und würde jetzt nach außen drängen.
In meiner Wohnung hatte ich keinen Kaffee mehr gehabt. Während ich meine Codekarte für das Gebäude in den Scanner legte, durch die Sicherheitsschranken ging und auf einen Lift wartete, meine Laborkarte durch den Scanner zog und im zwölften Stock ausstieg, hatte ich nur dieses einzige Wort auf den Lippen.
Kaffee!
Noch ein Scanner, Glastüren gingen auf, und ich betrat den gerichtsmedizinischen Flügel.
Rechts des Korridors lagen Büros, die Labore links. Microbiologie. Histologie. Pathologie. Anthropologie/Odontologie. Die Fenster reichten von der Decke bis zur halben Höhe der Wand, um optimale Sicht zu gewährleisten, ohne die Sicherheit zu beeinträchtigen. Durch das Glas konnte ich sehen, dass alle Labors noch leer waren.
Ich sah auf die Uhr. Sieben Uhr fünfunddreißig. Da die meisten Hilfskräfte, Techniker und das akademische Personal ihren Tag erst um acht begannen, hatte ich noch fast eine halbe Stunde für mich.
Mit der Ausnahme von Pierre LaManche. In dem Jahrzehnt, das ich nun schon im LSJML
Weitere Kostenlose Bücher