Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
zwischen die Finger geklemmt oder von Lippen baumelnd. Unter den Frisuren waren eine Freiheitsstatue, ein Mr. T, zwei Prinz Ivenhoes und eine Janis Joplin. Obwohl es zu dunkel war, um die Gesichter zu erkennen, wirkten alle fünf so, als hätten sie den Fall der Berliner Mauer noch im Kindergarten erlebt.
Ich bemerkte, dass die Statue Mr. T anstieß. Mr. T sagte etwas, und alle lachten.
»Bonjour«, grüßte Ryan vom Bürgersteig aus.
Keine Antwort.
»Hi.« Er probierte es auf Englisch.
Von drinnen hörte ich Lärm von den Sex Pistols, so als würde jemand die Lautstärke immer wieder auf- und herunterdrehen.
»Wir suchen Patrick Feeney.«
»Warum?« Mr. T trug eine Lederweste über einer haarlosen, nackten Brust. »Hat Papi in der Lotterie gewonnen?«
»Er wurde für einen Nobelpreis nominiert«, sagte Ryan mit flacher, humorloser Stimme.
Mr. T stieß sich vom Geländer ab und baute sich vor uns auf, die Beine gespreizt, die Schultern gestreckt, die Daumen in den Gürtelschlaufen seiner Jeans.
»Den schlafenden Hund wecken«, sagte die Statue und schnippte Asche auf den Bürgersteig. »Keine gute Idee.«
Während Mr. T aussah, als hätte er Lust auf ein bisschen Ärger, schien die Statue verzweifelt nach Aufmerksamkeit zu suchen. Seine Haarstacheln waren mit Farben besprüht, die ich in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, und eine Kette hing von einem Nasenloch zum Ohrläppchen.
Ryan trat vor und hielt Mr. T seine Marke vors Gesicht.
»Patrick Feeney«, wiederholte er mit einer Stimme wie Granit.
Mr. T ließ die Hände sinken und ballte die Fäuste. Joplin schlang einen Arm um sein Bein.
»À l’intérieur«, sagte sie. Drinnen.
»Merci.«
Ryan stellte den Fuß auf die unterste Stufe, und die Gruppe machte ungefähr einen Millimeter Platz. Wir schlängelten uns hoch und bemühten uns dabei, Fingern und Zehen auszuweichen. Ich spürte zehn Augen im Rücken.
Eine einzelne rote Glühbirne brannte über der Haustür. Obwohl die Veranda stark durchhing, konnte ich in dem karmesinroten Licht neue Bretter zwischen den alten erkennen. Jemand hatte die Erde in einem Blumenkasten umgegraben, und daneben stand ein flacher Korb mit Ringelblumen.
Chez Tante Clémence würde zwar nie einen Heim & Garten-Preis gewinnen, eine pflegende Hand war aber zu spüren.
Die Fassade des Hauses schien dem Innenarchitekten gefallen zu haben. Lavendel auf den Holzteilen, an den Wänden naive Fresken. Tiere. Blumen. Sonnenuntergänge. Die Töne waren wie die aus dem Wasserfarbkasten, den ich im Kunstunterricht in der Grundschule benutzt hatte. Das Mobiliar stammte von der Heilsarmee, und jedes Zimmer hatte anderes Linoleum.
Ryan und ich durchquerten das vordere Zimmer, in dem sich mehrere Futons befanden, kamen links an einer hölzernen Treppe vorbei und traten in einen langen schmalen Korridor. Türen auf beiden Seiten führten in die Schlafräume, jedes mit abgenutzten Schränken und vier bis sechs Betten oder Pritschen. Aus einem drang der silbrig-blaue Schein eines Fernsehers, und ich hörte die Titelmelodie von »Die Aufrechten«.
Auf halber Höhe des Korridors lag die Küche. Hinter der Küche konnte ich links einen Speiseraum erkennen, rechts zwei weitere Schlafzimmer.
Feeney kniete auf dem Küchenboden und half einem Haufen Teenager auf den Spuren von Metallica, einen Lautsprecher entweder zu zerlegen oder zusammenzubauen.
Wie afrikanische Chamäleons, die grün werden und schwanken, um Blätter zu imitieren, übernehmen junge Sozialarbeiter oft Accessoires ihrer Klientel. Jeans, Pferdeschwänze, Birkenstock-Schuhe, Springerstiefel. Die Tarnung hilft ihnen bei der Kontaktpflege.
Aber nicht so Feeney. Mit seiner Schildpattbrille und den dichten weißen Haaren samt einem Scheitel, der so gerade war wie eine Startbahn, hätte er eher in ein Seniorenheim gepasst. Er trug eine Strickjacke mit Zopfmuster, ein Flanellhemd und eine graue, fast bis zu den Achseln hochgezogene Polyesterhose.
Als Feeney unsere Schritte hörte, drehte er sich um.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Ryan zeigte seine Marke.
»Detective Andrew Ryan.«
»Ich bin Patrick Feeney. Ich leite dieses Zentrum.«
Feeney schaute mich an. Metallica ebenfalls. Ich erwartete fast, dass die vier mit hohen, krächzenden Stimmen »Die, Die My Darling« anstimmten.
»Tempe Brennan«, stellte ich mich vor.
Feeney nickte dreimal, was allerdings eher ihm selbst galt als uns. Die Jungs hinter ihm beobachteten uns mit Mienen, die von Neugier bis Feindseligkeit
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