Knochenraub am Orinoko
anstelle einer Antwort blitzte Don Ignacio die Reisenden nur aus weit aufgerissenen Augen an, als würde er gerade etwas furchterregendes sehen.
»Don Ignacio hat recht«, schaltete sich Pater Zea ein. »Die Gegend ist nichts für Sie … zu gefährlich und zu unheimlich, wenn man sich nicht auskennt.«
»Also, dass es hier Krokodile, Wasserschlangen, Jaguare und andere wilde Tiere gibt, wissen wir auch«, warf Bonpland ein.
Don Ignacio und Pater Zea wechselten einen vielsagenden Blick. Dann fing Pater Zea an zu erklären: »Ab hier werden die Wälder immer einsamer. Sie werden kaum mehr Weiße europäischer Abstammung zu Gesicht bekommen, stattdessen …« Er schwieg für einen Moment.
»Behaarte Waldmenschen, kopflose Rayas-Indianermit Mündern am Bauchnabel und Wesen mit nur einem Auge an der Stirn«, vervollständigte Don Ignacio den Satz. Für einen Moment herrschte erschrockenes Schweigen. Abasi rückte verschreckt an Bonpland heran, dem wie Pedro der Mund offen stehen geblieben war.
Nur Humboldt entfuhr ein spitzer Lacher. »Wie bitte? Entschuldigen Sie, Pater Zea, aber Sie glauben doch nicht etwa …«
»Der Padre hat’s gesehen. Ist es nicht so, Pater Zea? Mit eigenen Augen haben Sie sie gesehen!«, bestürmte Don Ignacio den Missionar, der wie ein weiser alter Mann zustimmend nickte.
»Moment, Sie wollen doch nicht sagen, dass es hier Wesen ohne Köpfe gibt und andere, die behaart sind wie Affen, sonst aber die Gestalt von Menschen haben?«, fragte Humboldt ungläubig. Er warf einen belustigten Blick zu Bonpland, doch der starrte immer noch wie vom Donner gerührt vor sich hin.
»Nicht hier, weiter südlich, jenseits der großen Katarakte«, antwortete Pater Zea. »Dort, wo die geheimnisvolle Höhle von Ataruipe liegt.«
»Was … ich meine … wie leben die Waldmenschen und diese kopflosen Rayas … und was fressen dieso?«, fragte Pedro mit erstickter Stimme, nach Essen war ihm nun nicht mehr zumute.
»Pedro!«, fuhr Humboldt entsetzt dazwischen. »Du wirst doch wohl nicht diese Schauermärchen glauben?« Doch Pedro wusste nicht, was er glauben sollte, insbesondere nicht, als Don Ignacio näher an Humboldt heranrückte und leise raunte: »Passen Sie gut auf die beiden Jungen auf, besonders auf den da!« Dabei zeigte er auf Pedro und starrte ihn aus seinen dunklen Augen an.
»Sie fressen Kinder!«, flüsterte Pater Zea, als befürchtete er, dass man ihn im dunklen Wald hören könnte.
»Kinder?«, wisperten Bonpland und Abasi.
»Nun ist aber mal gut«, schimpfte Humboldt. »Schluss jetzt mit den Ammenmärchen! Bonpland, reißen Sie sich zusammen. Die Tropenhitze wird Ihnen hoffentlich nicht den Verstand geschmolzen haben. Erzählen Sie uns lieber etwas von der Höhle, Pater, von der Sie eben sprachen. Welches Geheimnis umgibt sie denn?«
Pater Zea hob warnend den Zeigefinger. »Um die Höhle sollten Sie auch einen großen Bogen machen, Herr Baron. Es ist eine Totenstätte, voller Skelette verstorbener Indianer.«
»Ein heiliges Grab!«, ergänzte Don Ignacio.
Doch Pedro konnte sich bereits vorstellen, dass dies eher wie Musik für Humboldts Ohren klang. Und wie erwartet überhörte der Forscher die Warnung und meinte mit sichtlich aufgehellter Miene in die Runde: »Eine Totenstätte der Indianer? Dies klingt außerordentlich interessant. Eine solche Sehenswürdigkeit sollten wir uns nicht entgehen lassen. Was meint ihr?«
Pedro blickte rasch zu Abasi herüber, der entsetzt den Kopf schüttelte.
»O nein! Abasi nix gehen in Höhle von Toten«, rief er.
»Davon kann ich Ihnen auch nur dringend abraten«, bekräftigte Pater Zea seine Warnung. »Denken Sie an die kopflosen Rayas und die behaarten Waldmenschen. Die Höhle von Ataruipe ist ein gespenstischer Ort.« Doch aus dem Augenwinkel sah Pedro, wie Humboldt nur verächtlich abwinkte. Es war offensichtlich, dass er sich diese Kultstätte nicht entgehen lassen wollte.
Raub der Skelette
In dieser Nacht schlief Pedro schlecht. In seinen unruhigen Träumen tanzten Rayas und haarige Waldmenschen um einen Pfahl herum, an dem sie Abasi festgebunden hatten. Sie waren allesamt nackt und – kopflos. Dafür bestanden ihre Bäuche aus riesigen Mäulern. Der an den Pfahl gebundene Abasi schrie fürchterlich. Schweißgebadet fuhr Pedro in seiner Hängematte hoch, doch noch immer hörte er Abasis Schreie. Mit einem Blick auf das Lager des Sklavenjungen erkannte Pedro, dass Humboldt gerade verzweifelt versuchte, Abasi zu
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