KNOI (German Edition)
voneinander davonzupaddeln, gegen den Strom, aus dem Strudel heraus, der für sie vorgesehen war, bis Conny einen Schritt zurücktrat und tief Luft holte, als wäre sie zu lange unter Wasser geblieben.
- Nein, sagte sie.
Sie wolle diese Rolle nicht übernehmen. Auch wenn sie zweifelsfrei die Idealbesetzung sei. Das Saallicht müsse jetzt angehen, sie müssten einander im banalen Alltagslicht ansehen und erkennen, dass sie sich in einer Projektion verloren hätten. Aber draußen sei es inzwischen dunkel geworden, sagte Jakob, draußen, da könnten sie in einen neuen Schatten treten und ihre eigenen Lichter gegen die Wände werfen, ihre eigenen Dialoge sprechen, da draußen dürften sie sich für eine eigene Geschichte entscheiden, keine Handlung, keine besonderen Vorkommnisse brauche er, keine Zuseher, schon gar kein Ende, sagte Jakob. Aber es fühle sich doch an, als würde man zu spät in einen Film geraten, sagte Conny, man hätte das Wesentliche versäumt, und man würde nie richtig in die Geschichte finden. Man könne zwar behaupten, man habe ihn gesehen, aber immer bleibe das Gefühl von Unvollständigkeit, von einer Lücke, die man sich zwar ausmalen könne, aber nie hätte man die Gewissheit, den ganzen Film gesehen zu haben. Jakob sagte, dass Anfänge ohnehin überschätzt seien und dass es doch nur auf das Ende ankomme, ja, dass die Enden für ihn immer am schönsten seien. Und wenn sie einander jetzt küssten, dann wüssten sie doch, ob es ein Ende oder ein Anfang sei. Ein Happy End sei doch immer ein Anfang und nicht das Ende, sagte er, ohne Luft zu holen. Ein Happy End sei nur das Ende der Anbahnung, aber nicht das Ende einer Geschichte, im Gegenteil, ein Liebesfilm müsse doch eigentlich mit diesem Happy End beginnen, mit dem großen Kuss müsse so eine Geschichte anfangen und nicht aufhören, sagte er. Es sei völlig widersinnig, dass Liebesfilme immer nur auf diesen einen Kuss zusteuerten, und da unterbrach sie ihn mit einem Kuss, einem kurzen Kuss, viel zu kurz, um darüber nachzudenken, ob das jetzt ein Ende oder ein Anfang gewesen war. Sie küssten einander mit offenen Augen, und Conny nahm dabei die Hände nicht aus den Manteltaschen. Sie sagte, sie werde jetzt hinausgehen, an die Luft, in den Regen, in den Hagel, in die stehende Hitze, sie brauche jetzt irgendein Wetter, nach diesem Kuss in diesem Raum müsse sie ihr Herz da draußen auf Winterhärte prüfen. Ihr Blick sah zerfahren aus, und Jakob fragte, ob sie wiederkomme, und Conny sagte, das wisse sie erst, wenn sie da draußen im Wetter gestanden sei, und dann ging sie, und in Jakob entstand sofort die Gewissheit, dass er tage-, vielleicht sogar wochenlang in dieser Wohnung ausharren würde, um sie nicht zu verpassen. Als Kind hatten sie ihm gesagt, wenn man jemanden verliere, bloß nicht herumlaufen, immer warten, nie suchen, wer bleibt, der findet, sagte man in Rohrbach, und dann läutete es, und Conny stand vor der Tür und sagte, draußen sei es zu kalt, um einen klaren Gedanken fassen zu können, sie wolle warten, bis es wärmer werde. Das könne aber tage-, ja wochenlang dauern, sagte Jakob, und Conny zuckte die Achseln und sagte, es dauere eben, so lange es dauere, und Jakob runzelte die Stirn, weil es sich anfühlte wie Warten, ohne verlorengegangen zu sein.
Und in Ontario fand eine Frau in ihrem Hotelzimmer ein Kuvert, auf dem
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stand. Die Frau erkannte sofort, dass es sich um eine Männerhandschrift handelte. Nachdem sie den Brief geöffnet hatte, hielt sie allerdings ein weißes Blatt Papier in Händen. Keine Nachricht. Kein Absender. Die ganze Nacht lag sie wach, obwohl sie sonst nirgends so gut schlief wie in Ontario. Aber das weiße Blatt übte eine verstörende Anziehungskraft aus. Sie hatte seinen letzten Brief nicht beantwortet. Es war über zwanzig Jahre her. Er in Massachusetts. Sie in Florenz. Einfach nicht mehr geschrieben. Obwohl sie seit zwanzig Jahren täglich daran gedacht hatte. Aber eine Briefliebe. Aussichtslos. Und jetzt dieses weiße Blatt Papier. Eine Aufforderung. Ein Angebot des Schicksals. Wie weit war es von Ontario bis nach Massachusetts? Draußen braute sich ein Unwetter zusammen. Sie stand auf und begann zu schreiben. Das ganze Blatt füllte sie beidseitig mit ihrer Handschrift. Sie erzählte ihm nur von dieser Nacht. Als hätten sie sich erst kürzlich geschrieben. Sie überklebte das
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mit einem Etikett mit seinem Namen, schrieb keinen Absender auf die Rückseite und schickte den Brief an
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