KNOI (German Edition)
auch wenn man keine hatte. Der Knoi schien ihm besonders sympathisch zu sein, denn er verlangte so gut wie nie etwas für seine Dienste. Jakob solle stattdessen seinen Kindern etwas Schönes kaufen. Meistens war der kleine Raum überfüllt mit Menschen, die nur selten wegen Änderungsarbeiten kamen, sondern um Dinge feilzubieten, Neuigkeiten zu überbringen, Kinder herzuzeigen, Michael in Fragen der Liebe, des Berufs oder der Kleidung zu konsultieren, sich aufzuwärmen, sich zu verabreden, um ein Glas Tee zu sich zu nehmen oder einfach nur zu schauen, warum sich vor der Änderungsschneiderei wieder einmal eine Menschentraube gebildet hatte.
Jakob schaute inzwischen jeden Tag vorbei. Er nahm das Notizbuch und schrieb:
Überall gibt es Menschen, die
–. Er klappte es wieder zu und beobachtete, wie Michael einem Mann riet, die Hose nicht kürzen zu lassen, sondern sie umzutauschen, weil ihm Blau viel besser stehe als dieses schlammige Grün. Die anderen im Laden stimmten Michael eifrig zu, und der Mann freute sich, er hätte gleich auf seine innere Stimme hören sollen, aber die Verkäuferin, die jedem versicherte, ihm würde alles gut stehen, habe ihm diese Hose eingeredet. Michael klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und sagte, es kämen täglich mindestens drei Kunden, die dieser Verkäuferin auf den Leim gegangen seien, er solle sich nicht kränken, es sei an der Zeit, dieser Frau das Handwerk zu legen. Bevor Jakob ging, ließ er das Notizbuch unauffällig zwischen den Stoffbergen verschwinden.
Als er an den indischen Zeitungsverkäufern vorbeikam, fragte er wieder nicht nach dem Verbleib des ältesten, der vor ein paar Wochen plötzlich verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht war. Bei Rubys Altwarenladen blieb er kurz stehen, weil ihm ein ausgestopfter Fuchs einen Blick zuwarf, als würde heute noch etwas Unvorhergesehenes passieren. Er stöberte in der Schachtel mit den alten Fotografien. Kistenweise brachten die Leute die Hinterlassenschaften ihrer Verwandten zu Ruby, die sich dann von hier aus über die Stadt verstreuten. Auch in Jakobs Wohnung hingen inzwischen zahlreiche Fotografien von Menschen, die er nicht kannte. Jennifers Schachtel hatte er noch immer nicht entsorgt. Branko kam jeden Dienstag, um darin zu stöbern. Jakob hatte ihm einen Schlüssel gegeben, damit er sich wegen Branko die Wochentage nicht zu merken brauchte. Heute war Donnerstag. Das wusste er aber nur, weil Donnerstag der Müllwagen durch die Gasse fuhr. Jakob ging noch bei der Friseurin vorbei, um zu fragen, ob etwas für ihn abgegeben worden sei. Sie verneinte, erzählte ihm aber von einem Wasserrohrbruch im Haus. Vor der Haustür blieb er stehen, weil dort eine Frau saß, und noch bevor sie ihn erkannte, spürte er, dass sie auf ihn wartete.
- Conny, sagte Jakob.
Sie sah Jennifer ähnlich. Aber eben nur ähnlich.
- Jakob, sagte Conny, die ihre Hände in den Manteltaschen behielt.
Ihre Stimme klang erleichtert, als hätten sie sich im Leben schon ein paar Mal versäumt. Sie war eine hervorragende Besetzung für die Marie, die nicht mehr aufgewacht war. Die Ähnlichkeit zu Jennifer wirkte ein wenig zu gesucht, als hätte man Wochen mit dem Casting zugebracht, um jemanden zu finden, der als die junge Kerbler durchging. Aber das Seelenfleisch konnte als verwandt dargestellt werden. Dass Conny für die Rolle der Jennifer eigentlich zu weich, ja zu sanft war, arbeitete am Ende dem Umstand zu, dass sich der junge Held völlig ansatzlos in sie verliebte. Da war es nur von Vorteil, dass die Darstellerin auch in den Nahaufnahmen ihr Geheimnis nicht preisgab. Man konnte sich schwer vorstellen, wie Conny geschminkt wirkte. Ihre blassen Augen und ihr konturloses Gesicht verloren sich in jeglichem Hintergrund. Jakob, und da war er bestimmt nicht allein, spürte sofort den Drang, sie festzuhalten, bevor sie von der Umgebung aufgesogen wurde und in einer Totalen verschwand. Ihre Stimme war leise und erforderte vom Zuseher höchste Konzentration. Ihr Blick traf stets das Auge hinter der Kamera. Man konnte, wenn man wollte, alles in ihr sehen. Da stand sie. Am Strand. Die Hände in den Manteltaschen. Die Gischt schlug ihr ins Gesicht, aber sie blinzelte nicht. Der Inselwind riss an ihrem schulterlangen Haar, das aber stets nach ihrem Kommando zu tanzen schien. Aufrecht und in hochgeschlossener Statur stand sie an ihrer markierten Position und ließ den Sand an sich vorbeiwehen. Jakob hatte das Gefühl, als stünde sie in
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