Kochwut
hatte Hilde vor dem gleichen Schicksal bewahrt. Hinrich hielt seinen ausgiebigen Mittagsschlaf. Fragte ihn jemand danach, dann meinte er, dass er hin und wieder mal ein kurzes Nickerchen machen würde, in Wahrheit schlief er jeden Nachmittag ein bis zwei Stunden. Doch das hätte er nie zugegeben, niemand sollte ihn mit seinen 86 Jahren für einen hinfälligen Greis halten. Ja, er war immer noch sehr eitel, ihr Herr Vater.
Hilde lächelte in sich hinein und gab reichlich Rosinen in den Teig. Dann holte sie die alte Puddingform, den durchwachsenen Räucherspeck und das Semmelmehl aus der Speisekammer. Vater hatte sich zum Abendessen einen Großen Hans gewünscht. Sie hatte gestern noch mitten in der Nacht die Aufzeichnungen der Mutter durchstöbert, um das alte Familienrezept zu finden, da sie sonst wieder lange Diskussionen durchzustehen hätte. War er sonst auch sehr offen für Neues, beim Essen war Hinrich Dierksen pingelig. Er wollte genau den Großen Hans essen, der ihm Zeit seines Lebens vertraut gewesen war. Hilde war froh, sich mit dieser Aufgabe ablenken zu können von dem schrecklichen Ereignis, das diesen Tag auf Gut Güldenbrook zu einem traurigen Tag machte. Auf der anderen Seite überlegte sie, wann und wie sie ihrem Vater die Nachricht von Christians Tod beibringen sollte. Der Arzt hatte gesagt, er solle sich nicht aufregen, das sei nicht gut für ihn und sein Herz. Und sie wusste, dass er sich sehr aufregen würde.
Es war früher Nachmittag, und kraftlos stand die Wintersonne über der kahlen Landschaft. Zwar hatte man an Weihnachten die Talsohle der dunklen Jahreszeit durchschritten, doch bis Licht und Helligkeit zurückkehrten und das Land wieder weit und offen wurde, wie sie es liebte, würden noch ein paar Wochen vergehen.
Vor drei Jahren war Hilde Dierksen aus Berlin hierher gezogen, an den Ort, wo sie geboren und aufgewachsen war. Lange Zeit hatte sie geglaubt, nie wieder auf dem Land leben zu können, erinnerte sich daran, wie beengt sie den Alltag hier gefunden hatte, wo nichts los war, man immer nur die gleichen Leute traf und jeder jeden kannte. Doch mit zunehmendem Alter hatte sich das geändert, und dann hatte es sich einfach so ergeben. Ihre Mutter, auch mit ihren 80 Jahren eine kraftvolle und unverwüstlich wirkende Frau, zog sich einen komplizierten Beinbruch zu, der nicht heilen wollte, weshalb sie schließlich zum Pflegefall wurde. Das nahm Hilde zum Anlass, hierher zurückzukommen.
»Alles passte«, wie Hilde immer gern sagte, wenn die Dinge sich scheinbar nahtlos ineinanderfügten. Auch damals. Sie hatte sich gerade von ihrem langjährigen Lebensgefährten getrennt, mit dem sie nur noch aus Gewohnheit zusammen war, wie sie irgendwann festgestellt hatte. In der Firma, in der sie fast 30 Jahre als Büroleiterin gearbeitet hatte, hatte sich vieles verändert in jüngster Zeit, nicht zum Besseren, und als man ihr eine kleine Abfindung bot, wenn sie freiwillig gehen würde, gab sie den Job ohne Bedauern auf. So nutzte sie die Chance des Augenblicks, die Weichen für ihre Zukunft neu zu stellen, und sah darin einen seltenen Glücksfall des Schicksals. Natürlich war ihr Bruder, der mit Frau und Kind in München lebte, unendlich erleichtert, dass Hilde die Verantwortung für die Eltern einfach so auf sich nahm. Anfangs war sie ein bisschen unsicher, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, doch das Leben mit den beiden alten Leuten gab ihr so viel zurück, dass sie sich ausgefüllt fühlte wie lange nicht mehr. Im letzten Jahr war dann ihre Mutter gestorben, und Hinrich hatte sofort gesagt, jetzt gehe er ins Heim.
»Ach Vadder, meinst du nicht, wir zwei kommen auch allein ganz gut miteinander aus?«, hatte sie ihn da gefragt.
»Wenn du das mit mir tüddeligem alten Kerl aushältst, min Deern, dann bleib ich wohl gern bei dir hier auf Güldenbrook. Wird ja man auch nicht mehr ewig dauern«, war seine Antwort.
Und nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten kamen sie inzwischen sehr gut miteinander aus. Nie hätte Hilde gedacht, dass der Vater, der ihr früher oft autoritär und ungerecht vorkam, im Alter einmal so tolerant und erstaunlich selbstkritisch werden würde. Sie sprachen über alle Entscheidungen, die ihren gemeinsamen Hausstand betrafen, und konnten sich meist schnell einigen. Es war mit ihm viel einfacher als damals mit den Jungs in ihrer Wohngemeinschaft in Kreuzberg. Wahrscheinlich gab es doch so etwas wie Weisheit im Alter, jedenfalls bei manchen Menschen.
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