Kochwut
eintreten ließ. »Komm, wir setzen uns am besten erst mal.«
Sie führte den alten Mann in die Stube, wobei er ihr einen erschrockenen Blick zuwarf. Der Kater folgte mit hoch aufgestelltem Schwanz und sprang elegant auf Hinrichs Lehnstuhl.
»Hilde, was ist denn geschehen?«, fragte der alte Mann ein wenig atemlos, als sie alle um den Esstisch Platz genommen hatten.
»Ich wollte dir das eigentlich schonender beibringen, Vadder«, Hilde seufzte und nahm seine beiden Hände. »Der Christian ist tot.«
»Was?«
Hinrich sah seine Tochter ungläubig an.
»Hatte er einen Unfall? Was ist passiert?«
»Er ist ermordet worden.«
»Um Gottes willen!«
Er bemühte sich sichtlich um Haltung. Doch er quetschte plötzlich Hildes Hände, dass es schmerzte. Sein Atem ging stoßweise.
»Wer hat das getan?«
»Das versuchen wir herauszufinden, Herr Dierksen«, sagte der Beamte mit Namen Angermüller schnell. »Die Tat ist gestern Abend oder gestern Nacht verübt worden, Genaueres wissen wir noch nicht, aber vielleicht können Sie uns sagen, ob Sie irgendwelche Beobachtungen gemacht haben, ob Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen ist?«
Er ist bestimmt kein Norddeutscher, so wie er spricht, dieser Kommissar, dachte Hilde.
»Gestern Morgen waren wir beim Arzt und zum Einkaufen in Oldenburg, dort haben wir auch eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen. Danach waren Vater und ich den ganzen Nachmittag zu Hause. Es war ruhig auf dem Gut. Ich habe niemand Fremden gesehen, auch keinen Lärm gehört oder so. Also, ich wüsste nicht, dass hier gestern etwas anders gewesen wäre als sonst. Du Vadder?«
Hinrich Dierksen schüttelte den Kopf. Die erstaunliche Vitalität, die er für sein Alter ausstrahlte, schien ihn plötzlich verlassen zu haben.
»Ich mag das gar nicht glauben. Der Herr Graf tot. Ermordet.«
In sich zusammengesunken, saß der alte Mann auf seinem Stuhl. Er hatte Christian von Güldenbrook nie anders genannt als den ›Herrn Grafen‹. In der dritten Generation seiner Familie hatte Hinrich Dierksen das Amt des Verwalters auf Güldenbrook innegehabt, erst bei Christians Vater, dann bei Christian selbst, bevor er vor über 20 Jahren in Rente ging. Einen Nachfolger brauchte man nicht, denn das Land war mittlerweile verpachtet und Gut Güldenbrook kein großer landwirtschaftlicher Betrieb mehr.
»Wer tut so was?«, fragte er wieder.
Ratlos sah er von einem zum andern. Mit dem Handrücken versuchte er, den Tränenfluss aus seinen Augen einzudämmen. Er räusperte sich.
»Wie meine Tochter schon sagte, wir beide waren ab dem frühen Nachmittag hier, und dann, so bei 20 Uhr rum, kam der Herr Lebouton zu uns zum Essen. Für mich ist das ja man ein bisschen spät für das Abendbrot, aber wenn Gäste kommen, muss man auch mal zurückstecken.«
Liebevoll sah Hilde ihren Vater an. Wie er sich klaglos allen möglichen Gepflogenheiten anpasste und sich nie beschwerte oder meckerte, war wirklich erstaunlich. Von anderen wusste sie, dass die alten Leute oft sehr starrköpfig und nicht bereit waren, auch nur einen Deut von ihren alt eingefahrenen Gewohnheiten abzuweichen und jede Veränderung als ›modernen Kram‹ abkanzelten.
»Wie lange war der Herr Lebouton denn bei Ihnen?«
»So von 20 bis 22 Uhr etwa, würde ich sagen. Ich bin dann gleich zu Bett gegangen«, sagte er, »und meine Tochter hat noch in der Küche Klarschiff gemacht. Ich bin ihr da leider keine große Hilfe.«
»Du weißt doch, ich bin in meinem Reich sowieso lieber allein, Vadder«, lächelte Hilde, obwohl ihr nicht danach zumute war. Sie hatte nicht nur den Tisch abgedeckt und die Küche aufgeräumt, sie hatte danach auch noch Besuch empfangen. Doch davon wusste ihr Vater nichts. Sie wollte auch nicht, dass er es erfuhr – jedenfalls nicht jetzt und nicht so. Das war im Grunde idiotisch. Sie war mehr als erwachsen und hatte niemandem Rechenschaft abzulegen über ihre privaten Beziehungen, doch sie war sich auch noch nicht ganz sicher, was sich aus dieser Liaison entwickeln würde. Es war alles noch so neu und so aufregend. Ein kurzer, angenehmer Schauer lief ihr über den Rücken. Gerade mal erst sechs Wochen waren seit Silvester vergangen.
»Was ist Pierre Lebouton für ein Mensch? Sie kennen ihn gut?«
»Nee, das würd ich man nich so sagen«, Hinrich Dierksen schüttelte den Kopf. »Wir sind zwar Nachbarn seit langen Jahren, aber Herr Lebouton ist viel unterwegs, und wenn er hier ist, hat er auch meistens gut zu tun. Erst seit die Hilde und ich
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