Kölner Kreuzigung
etwas Neues, Stichhaltiges über den Verbleib des Gemäldes zu erfahren, doch er war enttäuscht worden. Hochkirchen wusste definitiv nicht, wo sich das Bild heute befand. Marius verließ das Büro und stand wieder im Vorzimmer. Mit dem Fuß hielt er die schwere Tür noch einen kurzen Moment auf, als er sah, dass Hochkirchens Sekretärin bereits zum Telefonhörer gegriffen hatte. Was immer Hochkirchen ihr zu sagen hatte, es eilte und es war nicht für Marius’ Ohren bestimmt. Aus dem Raum hinter ihm hörte er die kräftige Stimme des Patriarchen. »Verbinden Sie mich mit Merheimer. Sofort.« Marius ließ die Tür leise zufallen und lächelte Frau Sedwick zum Abschied freundlich an.
9
Kustos Wolfgang Rast blickte in das leere Treppenhaus des Museums. Nun, nachdem die Lkws bereits seit einer Stunde unterwegs waren, wurde ihm erst bewusst, dass er hier nicht mehr gebraucht wurde. Seine Bilder waren in Sicherheit, das Museum geschlossen, ihm blieb nichts mehr zu tun. Es klang zwar absurd, aber ohne die Bilder wirkte das Museum stiller. Doch es war nicht nur das Gefühl einer fehlenden Aufgabe, das an ihm nagte. Immer wieder dachte er über die vier Uniformierten nach. Er hatte keinen Grund gehabt, an den Soldaten, die ihm die Heeresdirektion geschickt hatte, zu zweifeln, und der verantwortliche Offizier war zwar ein forscher, jedoch durchaus seriöser Mann. Oder nicht?
Nachdenklich ging Rast die Treppen hoch in sein Büro im Dachgeschoss des alten Baues und suchte nach dem Schreiben, mit dem ihm die Heeresdirektion die Begleitung und Sicherung des Kunsttransportes zugesagt hatte. Er fand es unter einigen Kunstbüchern und Bildbeschreibungen auf seinem Schreibtisch. Dort stand in knappen und klaren Worten, dass ihm die Heeresdirektion Soldaten zum Schutz des Transports zur Verfügung stellen würde. Alles in Ordnung also. Dennoch. Er hatte Kunstschätze von unermesslichem Wert vier Männern anvertraut, die er überhaupt nicht kannte, die er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Es hätte nicht geschadet, wenn er sich vorher über diese Soldaten informiert hätte. Vielleicht sollte er das jetzt nachholen? Allein schon, um sich zu beruhigen? Der Kustos griff zum schwarzen Hörer seines Telefons und wählte die Nummer der Heeresdirektion. Trotz häufiger Ausfälle funktionierte das Telefonnetz mehr oder weniger. Rast hatte Glück. Das Freizeichen erklang. Aber gerade als sich am anderen Ende eine Stimme meldete, wurde die Verbindung wieder unterbrochen. Rast versuchte es ein paar Minuten später erneut, allerdings kam dieses Mal erst gar keine Verbindung zustande. Seine Unruhe wuchs. Er hätte sich das Bestätigungsschreiben der Soldaten genauer anschauen sollen. Er hätte die vier Männer überprüfen müssen! Der Offizier Wilhelm Schulz hatte ihm den Brief nur kurz gezeigt, dann wieder eingesteckt. Rast hatte das für die übliche, vielleicht übertriebene Schneidigkeit eines Offiziers gehalten. Aber jetzt fragte er sich, ob ihm Schulz nicht einfach etwas verheimlichen wollte?
Auch wenn er versuchte, sich einzureden, dass seine nagende Unruhe grundlos war, nahm er seinen Mantel von der Garderobe und verließ das Museum. Zu Fuß machte er sich durch die zerstörte Stadt auf den Weg zur Heeresdirektion im Rathaus. Zum Glück nur ein kurzer Weg, denn die immer zahlreicher werdenden Trümmer und Zerstörungen erschwerten jeden Fußmarsch. In den ersten Kriegsjahren waren die Trümmer noch beseitigt worden, mittlerweile kamen die Menschen damit gar nicht mehr nach. Schuttberge türmten sich teilweise meterhoch auf den Straßen und ließen manche alte Gasse unpassierbar werden. Die Gefahr von Blindgängern machte jeden kurzen Fußweg in der Innenstadt zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit.
Weil mehrere Gassen durch Trümmer und Schutt blockiert waren, musste der Kustos einen Umweg über die Ludwigstraße und Brückenstraße nehmen, um sich von Süden her dem Rathaus zu nähern. Von der Brückenstraße blickte er kurz auf den Quartermarkt mit seinen zerfetzten Fassaden. Hier hatte Stephan Lochner einige Jahre gelebt, jener Lochner, von dem nun einige Werke auf dem Weg aus der Stadt hinaus waren. Rast kam heil im Rathaus an und fragte sich nach dem verantwortlichen Offizier durch. Inmitten von Uniformierten fühlte sich Rast immer schuldig. ›Warum trägst du keine Uniform? Warum bist du nicht im Krieg? Warum lässt du dein Vaterland im Stich?‹ schienen die stummen Blicke der Soldaten ihm zuzuflüstern. Er
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