Kölner Kreuzigung
Marius wusste, dass Hochkirchen 62 Jahre alt war, ältester Sohn einer alten Familiendynastie und alleiniger Geschäftsführer der Hochkirchen Beteiligungsgesellschaft. Alexander Hochkirchen erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. Hatte man ihm im Sitzen sein Alter durchaus angesehen, so war davon in seinen kraftvollen, machtbewussten Bewegungen nichts mehr zu erahnen. Spontan dachte Marius an einen alten, mächtigen Berggorilla. Hochkirchen streckte Marius die Hand entgegen, und auch wenn der Detektiv durchaus jemand war, der einen festen Händedruck zu schätzen wusste, zuckte er unter diesem Handschlag kurz zusammen. Hochkirchen grinste kurz.
»Setzen Sie sich!« Er wies auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch, nicht auf die Sessel der Sitzecke, bot Marius etwas zu trinken an und goss sich selbst ein Glas Wasser ein. Mit dem Glas in der Hand kehrte er auf seinen Platz hinter dem Schreibtisch zurück, musterte Marius gründlich, allerdings ohne irgendeine weitere Reaktion erkennen zu lassen. Schließlich kam er ziemlich direkt zur Sache. »Einen Privatdetektiv habe ich auch nicht alle Tage vor mir sitzen. Was kann ich für Sie tun, junger Mann?«
Marius legte das Schwarzweiß-Foto der Kreuzigung auf den Schreibtisch, das Bild aus dem geheimnisvollen Arbeitszimmer hielt er zurück. »Sie kennen dieses Bild?«
Hochkirchen nahm das Foto in die Hand. Seine Augen flackerten kurz. »Sollte ich das?«
»Ein altes Erbstück ihrer Familie. Die Kreuzigung Stephan Lochners. Gemalt im Auftrag ihres Vorfahren gleichen Namens und entstanden um 1440. Das Bild ist seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen. Und wenn ich das richtig recherchiert habe, ist es eine Art Familienmythos der Hochkirchen.« Hochkirchen lächelte.
»Sie graben ja in alten Geschichten. Ich erinnere mich an Erzählungen über dieses Bild. Es ist tatsächlich eine Art Mythos in unserer Familie. Aber wohl auch deswegen, weil es uns seit ungefähr 100 Jahren nicht mehr gehört.«
»Es gab einigen Streit um das Gemälde, oder?«
»In der Tat. Zuletzt hat mein Urgroßvater versucht, das Bild wieder in Familienbesitz zu bringen. Leider ist es ihm nicht gelungen.«
»Stattdessen landete es im Besitz des Wallraf-Richartz-Museums.«
»Davon habe ich gehört.«
»Welche Verbindung gab es denn zwischen ihrer Familie und den späteren Besitzern?«
»Ah, das ist eine schmutzige kleine Geschichte. Die werden sie lieben. Als Privatdetektiv.« Hochkirchen blickte ein wenig spöttisch. »Eine Großtante von mir, die Schwester meines Urururgroßvaters, ich will mich nicht auf eine bestimmte Generation festlegen, hat sich, sagen wir, unvorteilhaft verheiratet. Es kam zur Scheidung, damals ein Skandal, und ihr Mann verschwand mit einem Großteil ihres Vermögens und natürlich dem Lochner. Als er später wiederkam, war er pleite. Das Einzige, was er noch besaß, war das Bild. Das wollte er für einen horrenden Preis der Familie verkaufen, doch der damalige Patriarch, mein Vorgänger, wenn Sie so wollen,« an dieser Stelle grinste Hochkirchen sehr zufrieden, »war ein ziemlicher Knauserer. Also weigerte er sich zu zahlen, mit dem durchaus schlüssigen Argument, dass uns das Bild sowieso gehören würde. Stattdessen versuchte er beim Gericht auf Herausgabe des Familienerbstücks zu klagen. Aber Max Johnen, so hieß der Mensch, legte beim Gericht einen Wisch vor, wonach ihm meine Großtante das Gemälde überlassen habe.«
»Eine Fälschung?« Hochkirchen zögerte einen Moment mit der Antwort. Marius registrierte aufmerksam, dass dem Mann diese alte Geschichte offenbar näherging, als er zugab.
»Vermutlich nicht. Er hat unsere Tante wohl wirklich dazu gebracht, ihm diesen Wisch zu unterschreiben. Wie auch immer er das geschafft hat.«
»Demzufolge gehörte das Gemälde rechtlich gesehen nicht mehr der Familie Hochkirchen?«
»Natürlich gehörte es uns. Wir hatten auch in den nächsten Jahren mehrere Versuche unternommen, das Bild zurückzubekommen. Dieses Gemälde symbolisiert den Aufstieg unserer Familie, ihren Reichtum und ihre Stellung. Früher war es vor allem das rötlich durchschimmernde Holz des Kreuzes, das der Familie wichtig war. Ein Gemälde auf dem Kreuz Christi. Wer besitzt etwas Vergleichbares? Die späteren Generationen hatten es weniger mit den alten Legenden, aber es war immerhin ein Lochner, der Stadtheilige unter den Kölner Malern! Nicht jeder hat einen Stephan Lochner im Salon hängen. Schon gar nicht einen, der extra für die Familie gemalt
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