Kölner Kulissen
fragt er.
Warum er nach seinem langen Schweigen ausgerechnet über Vico reden will, kann sie sich nicht erklären. Es passt ihr auch nicht. Aber sie kann sich nicht ewig davor drücken, über ihn zu sprechen.
»Vico war ein sehr guter Regisseur«, sagt sie. Und begreift dabei, dass er viel mehr für sie war. Was es bedeutet, dass sie Vicos Leben beendet hat, ist ihr nie so bewusst gewesen wie in diesem Augenblick. Ihr wird kalt.
»Was hast du von ihm gelernt?«, fragt Vincent. Er macht keine Anstalten, weiterzugehen.
Paula atmet die Nachtluft ein und schließt für einen Moment die Augen. Die Kälte kriecht ihre Wirbelsäule hoch. Sie erinnert sich an den Dreh von »Lagerfeuer«, ihren vierten und vorletzten gemeinsamen Film. In der Nacht zuvor hatte sie gefeiert und nur eine Stunde geschlafen. Den ganzen Tag lang war sie gereizt. Es war November, sie drehten an der Elbmündung. Der Wind fuhr durch ihre Kleider, und immer wieder mussten sie abbrechen, weil es zu regnen begann. Sie drehten einen Dialog, und Paula fand sich selbst schlecht. Vico sah zum Kameramann und fragte: »Sollen wir es noch mal machen?« Dieselbe Frage stellte er Paula und ihrem Filmpartner. Beide Männer meinten, sie sollten die Szene wiederholen. Und Paula rastete aus, schrie herum: »Wozu denn? Ist doch sowieso zum Kotzen! Das Drehbuch ist zum Kotzen! Ich bin zum Kotzen!«
Vico, der Kameramann und der andere Schauspieler sahen einander an und ließen sie für ein paar Sekunden weitertoben. Dann trat Vico einen Schritt näher und sagte: »Paula, niemanden hier interessiert, ob du dich zum Kotzen findest.« Danach gab er dem Team ein Zeichen, alles für die Wiederholung der Szene herzurichten.
In diesem Moment hat Paula etwas Wesentliches begriffen. Und seitdem ist sie nie wieder dermaßen ausgerastet.
»Vico hat mir beigebracht, mich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Er hat mich davor bewahrt, eine Diva zu werden.« Während sie das sagt, fragt sie sich, ob ihr diese Einsicht gerade jetzt kommt. Oder hat sie das zwischendurch einfach vergessen?
»Ist das denn wichtig für eine Schauspielerin?« Vincent steht im Gegenlicht einer Straßenlaterne, deshalb kann Paula seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Doch seine Stimme klingt nervös. Mit den Fingern der rechten Hand dreht er beständig einen Knopf seines Sakkos hin und her.
»Ist das nicht für jeden wichtig?«, fragt sie zurück.
Vincent atmet einmal laut ein und wieder aus. »Ich weiß nicht«, sagt er, und es klingt, als würde er erfolglos ein Lächeln probieren.
»Warum stehen wir hier eigentlich herum?«, fragt sie. Noch immer spürt sie die Kälte, jetzt bis zum Nacken herauf.
Er sieht zum Hauseingang hinter Paula. »Hier wohne ich«, sagt er.
Für einen Augenblick schweigen beide. Dann fragt sie:
»Darf ich mit reinkommen?«
ZWÖLF
Zoltan sitzt auf einer Bank am Rathenauplatz und sieht den Boulespielern zu. Nicht aus Interesse. Er wartet auf Slobo. Bereits vor zehn Minuten waren sie hier verabredet. Wenn Zoltan etwas nicht ausstehen kann, dann ist es Unpünktlichkeit.
Im Licht der sinkenden Sonne werfen die Bäume lange Schatten auf die Männer mit den Metallkugeln. Frauen sind nicht unter den Spielern. Wahrscheinlich erkennen Frauen die Idiotie des Spiels schneller als Männer, denkt Zoltan. Er traut Frauen allgemein ein besseres Urteilsvermögen zu als seinen Geschlechtsgenossen. Aber irgendwie beruhigt ihn das Spiel in diesem Moment. Das muss er sich eingestehen, nachdem er es eine Weile verfolgt hat. Er erinnert sich an die Übertragung eines Snookerturniers, das irgendwann spätnachts im Fernsehen lief. Er war nur zufällig darauf gestoßen, doch dann hat er zwei Stunden vor dem Fernseher verbracht. Dass er die Regeln nicht kannte, war unwichtig. Die Wege der Billardkugeln in die Taschen zu verfolgen, das manchmal fast bis zum Stillstand verlangsamte Rollen zu beobachten, bevor die Kugel in Großaufnahme über den Rand in die Tasche fiel – das war wie eine Meditation.
Hier, beim Boule im Schatten der Bäume, gefallen Zoltan vor allem die spärlichen Geräusche. Klick, klack, wenn eine Kugel zwei andere auseinanderstößt. Das leise Mahlen des Sandes unter dem Metall. Gesprochen wird kaum. Unstimmigkeiten zwischen den Spielern treten selten auf. Das meiste lässt sich mit Gesten klären oder – noch besser – erklärt sich von selbst durch einen Blick von oben auf die Lage der Kugeln. Dazu die allgemeine Langsamkeit der Bewegungen – die der Kugeln ebenso
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