König 01 - Königsmörder
der Stadtwache. Vier Seelen unter den Tausenden, die jetzt in seiner Hand lagen. Aber war seine Hand groß genug, um sie alle sicher darin zu bergen? Mit abermals hämmerndem Herzen betrachtete er diese Hand. Betrachtete jede einzelne Linie ihrer Innenfläche. Jede Falte. Und dachte…
vielleicht nicht.
Die Hand wurde zur Faust, die Faust geschüttelt. In seinem Blut brannte die Macht, sehnte sich nach Freiheit, jammerte nach Freiheit.
Sie war groß genug. Sie musste es sein. »Und es
war
ein Unfall«, sagte er. »Nicht wahr?« Die unter ihren Tüchern verborgenen Gestalten vor ihm antworteten nicht.
Er seufzte. Entspannte seine Faust und schob die kalten Finger wieder unter die Achseln. Der Hunger in seinem Blut verebbte, und er konnte wieder klarer denken.
Er weinte nicht.
Dies war seine Familie, auf Holztischen ausgebreitet wie die Ware eines Schlachters, damit die Hausfrauen sie begutachten konnten. Warum war er so ruhig? So losgelöst? Das konnte doch nicht richtig sein. Kein Schock hielt so lange, nicht wahr? Hier stand er, von Angesicht zu Angesicht mit den zerstörten Leibern seiner Familie, die bereits in diesem Augenblick verwesten. Sollte er nicht
irgendetwas
fühlen? Etwas anderes als fleischliche Kälte?
Und oh, die liebe Barl bewahre ihn, er fühlte die Kälte. Er fror bis in die Fingerspitzen, fror bis ins Mark. Fror bis tief ins Herz hinein.
Ist es das, was aus seinen Tränen geworden war? Waren sie gefroren? Außerstande zu fließen? Als er das letzte Mal geglaubt hatte, sein Vater sei tot, hatte er gewiss geweint. Er konnte sich genau daran erinnern, damals geweint zu haben. In der Scheune. Vergraben im Stroh. Ja, ja, damals hatte er geweint. Leise, damit Asher ihn nicht hörte.
Sollte er jetzt also nicht heulen wie ein Hund? Jetzt, da sein Vater, seine Mutter und seine Schwester an einem Berghang zerschmettert waren und man sie hier in diesen kalten, weißen Raum des Todes gebracht hatte, sollte er jetzt nicht
heulen?
»Es tut mir leid«, flüsterte er seinem verwesenden Fleisch und Blut zu. »Ich weiß nicht, was los ist mit mir.«
In weniger als zwei Stunden würde er im Kronrat Conroyd Jarralt gegenübertreten. Würde alles, was mit diesen Todesfällen zusammenhing, endgültig regeln, damit seine Familie Ruhe finden konnte. Frieden. Für immer. In weniger als zwei Stunden würde er zum nächsten König von Lur bestimmt werden.
So bald. So schrecklich bald. Furcht, sanft und geheim, flatterte in den Tiefen seines Magens.
»Kann ich das schaffen, Vater? Bin ich auch nur ein Schatten des Mannes, der du warst? Wenn nicht, liegt die Schuld bei mir. Alles, was gut und wahr ist an der Königswürde, habe ich gelernt, indem ich dich beobachtet habe. Ich werde mein Bestes geben, dieses Vermächtnis nicht zu verraten. Ich verspreche es.« Aber was war, wenn er dieses Versprechen nicht halten konnte? Was, wenn er sich trotz seiner besten Bemühungen der Aufgabe nicht gewachsen zeigte? In seiner Fantasie hörte er Fanes Gelächter, hämisch und verletzend.
»Dann, liebster Bruder, werden unsere Eltern und ich nicht lange allein sein.«
Schaudernd ließ er sich auf die Knie sinken. Umfasste mit verzweifelten Fingern das Ende des Holztisches, auf dem sein Vater lag.
»Nein«, wisperte er. »Du irrst dich, Fane. Du hast dich immer geirrt. Ich werde nicht scheitern. Barl sei meine Zeugin…
ich werde nicht scheitern.«
In dem von Sonnenstrahlen durchdrungenen Saal des Kronrats sah Conroyd Jarralt Pellen Orrick mit wachsamer Abneigung und nur unvollkommen verborgener Enttäuschung an. »Ein Unfall? Seid Ihr sicher?« Sein Tonfall deutete an, dass nur ein Idiot etwas Derartiges glauben konnte.
Asher ließ den Blick durch den Saal wandern. Armer Orrick. Sein Rücken war so steif und gerade, dass man einen Baumstamm mit einem einzigen Schlag in sein Rückgrat hätte entzweibrechen können, und sein Gesicht war ausdruckslos, dichtgemacht wie der Hafen von Restharven bei Sturm. Anscheinend liebte der Hauptmann Zusammenkünfte des Kronrats genauso sehr wie er selbst. »So sicher, wie ich sein kann, Mylord. Gewiss habe ich keinerlei Beweise für eine vorsätzliche Tat gefunden«, erwiderte Orrick.
Asher sah ihn an und staunte, dass der Mann angesichts Jarralts Feindseligkeit so ruhig bleiben konnte. Vielleicht irgendetwas in den Augen. Eine kleine Flamme oder ein Aufflackern von Abscheu.
Jarralt lachte höhnisch. Er war anscheinend von allen Anwesenden der Einzige, der in der Nacht friedlich geschlafen
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