König 01 - Königsmörder
unerträglich. Er musste hinschauen. Ganz gleich, wie schrecklich, wie quälend, wie unaussprechlich die Bilder sein mochten, er musste so lange hinschauen, bis die Wahrheit die Hoffnung überwand. Bis er anfangen konnte, die unausweichlich veränderte Landschaft seines Lebens zu akzeptieren. Langsam öffnete er die Augen. Das Erste, was er wirklich sah, waren Farben. In den in die weiß getünchten Mauern eingelassenen Nischen standen Vasen mit süßen, rosafarbenen Pamarandums. Ihr Duft tanzte in der Luft. Kitzelte ihn in der Nase. Verklebte ihm den Mund.
Er würde sich übergeben müssen.
Irgendwie gelang es ihm, die aufwogende Galle herunterzuschlucken, geradeso, wie er in der vergangenen Nacht Nix' ekelhaften Trank geschluckt hatte. Ah, die Dinge, die man tat, wenn man König war.
Wenn man fast König war.
»Ich weiß, du hast nie an mich geglaubt, Fane«, sagte er zu der Kleinsten der in Leichentücher gewickelten Gestalten vor ihm, »aber ich wollte wirklich nicht Wettermacher werden. Ich wünschte, ich hätte Zeit gehabt, dich davon zu überzeugen, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Glaubst du es jetzt, wo immer du bist?«
Schweigen.
Er trat von der Tür weg. Verschränkte die Arme vor seiner in schwarze Seide gewandeten Brust und schob die Finger in die Achselhöhlen. Dann machte er einen Schritt und noch einen, bis er knapp um Armeslänge entfernt von seiner Familie stand, die so reglos unter ihren Laken lag. Als Teil seiner rituellen Zeremonien hatte Holze jedem der Toten einen in sich gedrehten Strauß Barls– blumen auf die Brust gelegt. Dass jedes kleine Sträußchen reglos an seinem Platz lag, trieb ihm wie einen Nagel durchs Herz die Tatsache ins Bewusstsein, dass sie tot waren.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Vater. Mama. Kleine Schwester. Ihr seid gestorben und ich nicht. Was kann ich sagen, angesichts einer so hässlichen Wahrheit? ›Tut mir leid‹? Das scheint kaum passend zu sein.«
Irgendetwas war da… irgendetwas stimmte nicht… mit der Gestalt des verborgenen Körpers seines Vaters. Von den Schultern abwärts wirkte er eigenartig flach.
Seine Fantasie regte sich. Prallte zurück. Er würde nicht darüber nachdenken. »Durm hat ebenfalls überlebt«, fuhr er fort. »Nix meint, seine Hoffnungen seien gering, aber ich denke nicht, dass er sterben wird. Wenn er es täte, müsste ich Conroyd zu seinem Nachfolger ernennen, und diese Befriedigung würde Durm ihm nicht geben wollen. Ich weiß, dass ich es, verdammt noch mal, nicht will.« Dann hielt er den Atem an, wartete darauf, die liebevolle, tadelnde Stimme seiner Mutter zu hören.
»Fluche nicht, Liebling. Das ist nicht schön.«
Die Stille hielt an. Er starrte auf ihre unter Tüchern verborgene Silhouette hinab und wünschte von ganzem Herzen, sie möge sprechen. Eine Locke ihres Haares lugte unter dem Laken hervor. Sie schimmerte im Glimmfeuer des Totenraums, geradeso wie sie einst – erst gestern, vor so langer Zeit – im Sonnenschein geschimmert hatte, wenn sie lachte. Er sehnte sich danach, die Locke zu berühren. Sie sanft um die Finger zu schlingen und neckend daran zu ziehen, wie er es einst als Junge getan hatte.
Er konnte es nicht tun. Was war, wenn dieses prächtige, goldene Haar sich tot anfühlte, geradeso, wie sie tot war? Was, wenn er es ihr vom Kopf zog wie Stroh, das man aus der lebenden Erde zog? Es wäre eine Schändung…
Er stieß schluchzend den angehaltenen Atem aus und sog kalte, von Paramandumduft geschwängerte Luft ein. Die scharlachroten Flecken, die vor seinen Augen tanzten, verblassten, und sein hektisches Herz schlug langsamer. Da wusste er, dass er die Laken, die sie verbargen, nicht wegziehen würde. Er konnte es nicht ertragen, lebendige Erinnerung mit totem Fleisch zu vergiften. Er konnte nur eines tun, ihr Dahinscheiden akzeptieren. Und ihre Hoffnungen und Träume für ihn erfüllen, für ihn und für das Königreich, das sie ihr Leben lang geliebt hatten, und er konnte sein eigenes Leben für den unablässigen Dienst an diesem Königreich verpfänden. »Pellen Orrick untersucht das Geschehene, aber ich denke, es war einfach ein schrecklicher Unfall«, sagte er ihnen. »Barl hätte etwas anderes niemals zugelassen. Seit sechseinhalb Jahrhunderten hat sie über uns gewacht. Uns beschützt. Es gibt keinen Grund, warum sie uns jetzt im Stich lassen sollte. Es war ein Unfall.«
Durch die massive Tür des Raums hörte er schwache Stimmen. Den schweren Tritt von Stiefeln. Der Schichtwechsel
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