König Artus
was die Zukunft betraf, und seine Verwirrung angesichts einer rätselhaften Vergangenheit. Jeder Mensch, dem er begegnet, und jede Begebenheit, die ihm irgendwann in seinem Leben widerfahren war, war in ihm. Und in ihm waren auch seine körperlichen Beschwerden, die permanenten Bauchschmerzen, verursacht von der Kost seiner Zeit, die der Gesundheit nicht zuträglich war, vielleicht auch schlechte Zähne – eine allgemeine Plage –, möglicherweise eine zum Stillstand gekommene Syphilis oder die Enkelkinder der Pocken in entstellten Genen. Er hatte das kraftvolle, von Zweifeln unangefochtene System der Kirche, Erinnerungen an früher gehörte Musik, verfügte über die unbewußte Gabe der Naturbeobachtung, unbewußt, weil planvolle Beobachtung eine Eigenschaft späteren Datums ist. Er hatte den ganzen angehäuften Schatz des Volksglaubens seiner Zeit – Magie und Wahrsagerei und Prophezeiung, die Hexenkunst und ihre Schwester, die Heilkunst. All dies steckt nicht nur im Verfasser des Morte – es macht den Schriftsteller selbst aus.
Richten wir nun den Blick auf mich – den Schriftsteller, der, wenn er den Morte darstellt, auch den Mann darstellen muß, der ihn schrieb. Warum war und ist es notwendig, so viele Dinge zu lesen – von denen die meisten vermutlich nicht herangezogen werden? Ich finde es notwendig, möglichst viel darüber in Erfahrung zu bringen, was Malory wußte und was er empfunden haben mag, aber darüber hinaus muß ich mir auch klarmachen, was er nicht wußte, nicht wissen und auch nicht empfinden konnte. Ein Beispiel: Wüßte ich nichts über die Zeitumstände und die Einstellungen gegenüber Zinsbauern und Leibeigenen im Mittelalter, könnte ich nicht verstehen, warum Malory keinerlei Mitgefühl mit ihnen hat. Einer der größten Irrtümer bei der Rekonstruktion einer anderen Ära liegt in unserer Neigung, den Menschen jener Zeit ähnliche Gefühle und Einstellungen zuzuschreiben, wie wir sie haben. Ja, wenn ein Mensch von heute einem aus dem 15. Jahrhundert gegenüberstünde, wäre eine Kommunikation undenkbar, sofern er nicht gründliche Studien betriebe. Ich halte es immerhin für möglich, daß ein moderner Mensch mittels Wissen und Anstrengung das Denken eines Menschen aus dem 15. Jahrhundert verstehen und sich in einem gewissen Maß darin einfühlen kann – das Umgekehrte aber wäre ganz und gar unmöglich.
Ich glaube nicht, daß irgendwelche von den Recherchen für dieses Projekt Zeitvergeudung waren, denn wenn ich Malorys Denken vielleicht auch nicht in allem verstehe, so weiß ich doch wenigstens, was er nicht gedacht und gefühlt haben kann.
Wenn man all das bisher Gesagte bedenkt, muß einem klarwerden, daß das Gegenteil eine ausgesprochen schwierige Sache werden wird. Beim Übersetzen kann ich nicht alles aus dem Morte vermitteln, weil der moderne Mensch, so wie er denkt, ohne großes Wissen und viel Einfühlung in jene Zeiten ganz außerstande ist, einen großen Teil davon aufzunehmen. Wo dies der Fall ist, bleibt allein der Rekurs auf Parallelen. Vielleicht gelingt es mir, ähnliche Empfindungen oder Bildvorstellungen zu evozieren, identische aber können es nicht sein.
Die Schwierigkeiten in bezug auf diese Arbeit liegen für mich jetzt auf der Hand. Doch auch die Habenseite darf nicht geringgeachtet werden. Es gibt Volksgebräuche, -sagen und -sitten, die nie verlorengegangen und von Generation zu Generation weitergegeben worden sind. Dieser mythische Komplex hat sich essentiell nur wenig verändert, wenn auch seine Einkleidung von Epoche zu Epoche und von Ort zu Ort verschieden sein kann. Und innerhalb der Legende gewähren die Möglichkeiten der Identifikation Sicherheit, geradezu eine Gruppe von Reaktionen auf mentale Reize.
Dazu kommt, daß die Antriebe und Sehnsüchte der Menschen sich nicht verändert haben. Das wahre Verlangen eines Menschen richtet sich darauf, reich zu sein, behaglich zu leben, von anderen wahrgenommen und geliebt zu werden. Diesen Zielen gelten alle seine Wünsche, widmet er die meisten seiner Energien. Nur wenn es ihm versagt bleibt, sie zu erreichen, schlägt er eine andere Richtung ein. Innerhalb dieses Musters gibt es die Möglichkeit einer freien Kommunikation zwischen dem Verfasser des Morte und mir und all jenen, die mein Werk vielleicht lesen werden.
AN CHASE – LONDON, MAI 1958
Willkommen im London des 15. Jahrhunderts! Wir sind gerade von zweieinhalb Wandertagen mit Vinaver zurückgekommen. Da wir wegen einer
Weitere Kostenlose Bücher