König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
begonnen als Sie? Bedenken Sie, dass womöglich die Aberwitzigsten von ihnen verrückt geworden sind, ja, krank. Andere sind vor der Zeit verstummt. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass für diese entweder nie ein Podest unten im Hof bereit stehen wird oder aber die Aufbahrung ihrer Köpfe immer auf eine unbestimmte Zukunft vertagt ist. Und ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass Sie selbst die Verantwortung für Ihr Schicksal tragen und dass auch die zartgliedrigsten Denker und Versteher auf einem Sessel sitzen oder einem Boden stehen wollen. Da sind wir uns doch einig, oder? Anderes möchten Sie doch nicht? Wer meint, er kann ewig und immer wie ein Kind auf einer Schaukel sitzen und seine Gedanken so hin und her baumeln lassen, wer gar begehrt, sich so weit wie ein Vogel zu erheben und sich in einen Ast zu setzen – na gute Nacht, dem werden die Freunde abhanden kommen. Ich weiß, wovon ich spreche! Und von den Freunden, das sagte ich Ihnen schon und kündigte an, dass ich darauf zurück komme, hängt alles ab, von den richtigen Freunden.« Professor Icks dreht uns den Rücken zu, mit zuckenden Schultern. Weint er? Lacht er? Braucht er Hilfe? Aber da sehe ich ihn schon zur Tafel gehen, ein Taschentuch heraus ziehen und es, ganz aufgeschlagen, vor seine Augen halten. Und große dunkle Löcher tun sich an Stelle der Augen auf und fransen sich aus und verlieren ihre schönen, klaren Grenzen. Und weiter geschieht nichts. Will das Taschentuch nicht jemandem nachwinken, der im Zug auf und davon fährt? Ich muss ganz schnell die Finger über meine Augen legen, damit ich Professor Icks nicht mehr sehe, wenn er seinen Vortrag fortsetzt. »Denken Sie, dass der, der vorne am Podium die andern hinüberführt, desto dringender eines Netzes bedarf, das ihn auffängt, wenn das Volk ihn schon längst nicht mehr braucht, eines sanften Stoffs, das ihn an seine Liebsten erinnert. Nicht an Verwirrung sind die erkrankt, die unten im Hof fehlen, nicht an mangelndem Geist, sondern an mangelndem Boden unter ihren Füßen. Und wissen Sie, was der mangelnde Boden ist? Etwa eine Menge Sandkörner?« Und ein jäher Türschlag kündigt die Leere an, die Professor Icks jetzt hinterlässt. Flora zittert am ganzen Leib, und ich bin wieder in dem halben Eindruck aufeinander klappender, scheppernder Worte, Gedanken wie von Fieberkranken, gefangen. »Habt Ihr Professor Icks verstanden? Auf einer Schaukel soll man nicht sitzen, auf den Baum soll man nicht klettern, fliegen soll man nicht, auf die richtigen Freunde muss man achten. Sandkörner bilden keinen Boden, und Fische werden in einem Netz aus dem Wasser an Land gezogen, zerhackt, zerschnitten und aufgegessen. Früher sind wenige von ihnen am Meeresgrund herumgeschwebt, tief, tief unten, nicht wahr. Fischer hat es immer schon gegeben und Hunger auch. Oder war alles ganz anders?« Flora! Justin packt sie am Arm und zerrt sie hinaus vors Pult. »Hab keine Angst, ich werde dich einführen. Ich werde neben dir sitzen und dem Publikum alles erklären: Sehr geehrte Gäste, ich freue mich, dass Sie gekommen sind, um heute Abend Flora Tauber sprechen zu hören, die soeben ihre Lehre am Institut für Gedankenkunde und Verstehen abgeschlossen hat und dort als ein besonders hervorragender Geist in den Hörsaal hineinhaucht. Was ihre Gedanken auszeichnet, ist ihr Verständnis für Professor Stein, die sich in ihrem Büro über den Schreibtisch, ihr persönliches Babel, die Gedanken anderer, beugt und nicht mehr weiß, wozu ein zur Deutung Berufener bestimmt ist. Zunächst muss er auf seinen Sessel achten, denn Sitz- und Stehflächen sind das Um und Auf und A und O für einen Menschen, der denkt. Sie sehen, ich sitze gut, denn ich verstehe es hervorragend, zusammenzufassen, was Frau Professor Stein uns aufgetragen hat: Zum Besten zu geben, worüber Flora Tauber zum ersten Mal in ihrem Leben nachgedacht hatte. Flora Tauber dachte, dass wir alle Hunger haben. Begreifen Sie das? Begreifen Sie einen solchen Aberwitz? Ich darf Ihnen sagen, dass es mich keineswegs wundert, sie vor der Zeit verstummen zu hören. Guten Abend!« Justin applaudiert, Flora gibt keinen Ton mehr von sich, und mir ist es nicht gegeben, mich in ihr Schweigen zu mischen, weder als Hofnarr noch als Mundschenk. Alles verlockt mich, über Professor Icks nachzudenken, über seine Worte über schaukelnde Kinder, mit denen er nicht auf meinen Aufsatz angespielt haben kann, denn in meinem Aufsatz schaukelt das Kind ja nicht,
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