König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
schon noch ein Funke Wahrheit aufgehen, und sei’s auch dann beinahe schon zu spät. Glaubst Du nicht? Lina
IV.
Ich sitze in einer der letzten Reihen am Rand und übertrage ein, zwei oder drei Wörter aus Professor Steins Gedankenstrom in das Notizbuch. Sie steht vor der Tafel, vor ihren eigenen, ungeheuer regelmäßigen Schriftzügen, vor den Worten Über den Umgang mit fremden Gedanken, und erzählt, dass nichts, was wir denken, uns gehöre. Alles sei schon gedacht worden, und nichts, was wir aufzeichnen würden, würde nicht früher oder später schon da gewesen sein, und wahrscheinlich einigermaßen präziser. Was folgt daraus? Frau Professor Stein wackelt, während sie Fuß vor Fuß setzt, sie wackelt von einer zur andern Wand, bleibt stehen, überkreuzt ihre Arme vor der Brust und starrt in die nächste Ferne, auf den Schreibtisch in ihrem Büro, wo ganze Stapel von Blättern liegen und warten. Auf das Ende warten. Hören Sie das Ende? Das Ende, das Ende. Frau Professor Stein biegt ihr Ohr nach vor, während sie ihre Augen hin- und herrollen und einen Kreis beschreiben lässt, sie schreitet – ja, jetzt schreitet sie – zur Tür und schmiegt ihr Ohr daran. Ich sehe Flora auf der andern Seite der Tür stehen und ihre Lippen wie flüsternd sich bewegen. Souffliert sie Frau Professor Stein den vergessenen Text? »Je fremder Ihnen Ihre Gedanken werden, desto dringlicher werden Sie bemerken, dass Sie hier richtig sind. Es dauert nicht lange, und Sie treten in dieses Haus, in unser von dieser Stadt, diesem Land so über alles geschätztes, für die hier lebenden Menschen überaus wichtiges Institut und können sich kaum noch unterscheiden von den fremden Gedanken, mit denen Sie täglich Umgang pflegen. Wie befreiend, nicht wahr? Sie wissen dann, dass dies der Zeitpunkt ist, ab dem Sie in der Lage sind zu sprechen, ohne zu zögern. Welch ein Augenblick! Auf dem Sofa in Ihrem Büro zu sitzen, das Sie ein wenig in ein Wohnzimmer verwandelt haben, reden Sie, reden Sie und hören nicht mehr auf und finden kein Ende und legen sich über den Turm auf Ihrem Pult, damit er Sie nicht mehr daran erinnern kann, worauf er wartet.« Professor Stein öffnet die Tür, trifft Flora mit ihrem Blick und entschwindet. Flora springt auf und ruft aus: »Unsere Aufgabe ist es, bis zur nächsten Stunde darüber nachzudenken, was daraus folgt! Was folgt aus dem Umstand, dass alles schon gedacht worden ist und nichts mehr gedacht werden kann, das noch niemals gedacht worden ist.« Mir scheint, Flora blickt wie schlafend um sich, auf mich, um sich dann auf den Boden zu legen, die Arme auszubreiten, die Stirn auf das bloße Linoleum zu betten und ihre Lage nur zu unterbrechen, indem sie dann und wann Kopf und Rumpf hebt. Wiederholt sie, kaum hörbar, nur wispernd, Professor Steins vergessenen Umgang mit den fremden Gedanken? Flora! Flora? Justin hingegen setzt sich auf das Pult und nimmt die Kreide wie einen Dirigierstab in die Hand. »Niemand von uns – darum Flora beruhige dich – muss besorgt sein. Wir sind, ich fühle es geradezu überdeutlich, im Zeitalter befreiender Gedankenpflege angekommen: Nichts gehört uns, nichts außer dem Sessel, auf dem wir sitzen, und nichts hört uns, als das, was schon gedacht worden ist. Professor Stein legt ihr Ohr an die Tür, lässt sich von Flora einsagen und wird just eins mit den Gedanken auf den Blättern, die sich auf ihrem Schreibtisch türmen und die sie noch nicht gelesen hat. Und wie sie sich über sie legt, vergeht sie vor Glück darüber, solcherart ein Ende zu finden, solcherart mit allem Warten aufgehört zu haben. Wie sie da liegt auf dem Sofa träumt sie davon, dass Babel aufersteht, ehe der Hahn dreimal gekräht hat.« Lina, sag mir, glaubst du, ich liege da richtig? Lina? Wo bist du?
Ich glaube, es wird Zeit, in meinem Zimmer ein paar Veränderungen vorzunehmen. Lampe, bist du einverstanden? Ich trete näher an den ausgefransten, hellen Ton an der Wand, näher an das Gedicht, das meine Schwester aus einem Lieblingsbuch darauf gebrannt hat. Wir sagten es oft vor uns her, und trotzdem kam es vor, dass eine von uns es der andern heimlich in den Reisekoffer steckte, bevor wir wegfuhren. Dass es einmal auf hauchdünnem Ton, der wie Papier aussieht, an meiner Wand hängen und mich durch seine leibhaftige Gegenwart beruhigen würde, dachte ich nicht. Zerbrechlich stand auf den vielen Hüllen, in die meine Schwester es gewickelt hatte, und ich löste das Band mit dem feierlichen Gefühl
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