König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
dass ich gar nicht weiß, was ich bin, weder ob ich guter Dinge noch ob ich aus allen Wolken gefallen bin. Ich zucke nur so zusammen, wenn ich mitten in den langen Korridoren angerufen werde von einem Menschen, der sonst vorne im Hörsaal das Podium besetzt und uns erzählt, was geschehen wird, wenn wir uns in trällernde Vögel verwandeln und von hohen Bäumen herunter zwitschern, anstatt auf den Sesseln sitzen zu bleiben und die Gedanken unseres Nachbarn zum Volk hin zu verbiegen. Weiß ich, wie es kommt, dass sich Professor Icks ausgerechnet in den Gängen an meinen Namen erinnert. Wenn er im Hörsaal seinen Blick schweifen lässt und uns mustert und wir die Köpfe senken oder beinahe alle gleichzeitig zum Fenster hinaus spähen, spricht er nie irgendeinen unserer Namen aus. Verlieren wir ihn etwa in dem Augenblick, in dem wir hier unsere Plätze einnehmen? Vielleicht ist es gut so, vielleicht müssen wir ganz leer von unsern Namen werden, ganz leer von allem, womit er verbunden ist, und für ein paar Stunden unsere Geschichten hergeben. Ich stelle mir diese Freiheit so schön vor, Jakob, so unendlich schön. Stell Dir vor, du betrittst einen Raum, in dem dich alles unversehens und ganz ohne dein Zutun ermuntert, einer zu werden, der du noch gar nie gewesen warst. Unsichtbare Hände fassen nach dir und begleiten dich in Gedanken und Gemächer, die fremder nicht sein können. Und dort, wo es am dunkelsten wird, ruft dich einer bei deinem Namen, ruft: Lina Lorbeer, wie federleicht Sie heute durch die Welt spazieren! Ganz anders als das letzte Mal! Was ereignet sich dann, Jakob, was passiert dann? – Von Professor Steins Gedankenstunde kann ich Dir kaum etwas erzählen. Alles sei schon gedacht worden, hat sie gesagt, und was wir zu sagen hätten, sei schon gesagt worden. Ich frage mich, Jakob, was wäre so schlimm daran, wenn wir wirklich nur zu denken und zu sagen hätten, was schon gedacht und gesagt worden ist? Wenn wir uns nur zu erinnern hätten, um dabei eigen, ganz eigen zu werden? Wäre es nicht möglicherweise fast wunderbar? Glaubst Du, unser Prinz ist in der glücklichen Lage, nicht zu wissen, dass andere vor ihm nicht ebenso wenig wussten, wie sie ihr Leben anfangen und ihrer Geschichte entrinnen sollen? Ich umarme Dich, Lina.
V.
Professor Icks hält sich die Hand vor den Mund, während er gähnt, und ich kann nicht ein einziges Wort in das aufgeblättert vor mir liegende Notizbuch schreiben. Flora sitzt mit hochgezogenen Schultern und in die Hosentaschen geschobenen Händen neben mir und schaut auf die kleine freie Fläche vor sich. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass bislang nur ein paar Aufsätze zu der Frage eingetroffen sind, was aus dem Umstand folgt, dass alles bereits Gedachte an Präzision nicht zu übertreffen ist und also niemand von Ihnen einen Gedanken in die Welt setzen kann, der auch nur ein wenig erstaunt?« Professor Icks’ Augen wandern von Tisch zu Tisch, und die noch nicht gesenkten Köpfe neigen sich. Nur Justin springt auf: »Nein, Herr Professor, ich habe dazu einen kleinen Vortrag vorbereitet und bitte Sie dringend, ihn probeweise hier vor meinem Tisch halten zu dürfen. Es handelt sich um Gedanken, die wahrscheinlich noch einiger Ausfeilung bedürfen, aber – Justins Arm holt weit aus –, noch üben wir auf der Bühne, noch fehlt das Publikum, und wir können uns die eine oder andere Ungenauigkeit erlauben. Was kümmert uns Druckreife, da doch kaum jemand hier ist, den kitzeln wird, was wir sagen. Ich möchte meine kleine Rede den Fliegen widmen, die am Papier kleben geblieben sind. Oder dem Papier, das die Fliegen gefangen hat? Oder den Steinköpfen, die im Hof fehlen und immer fehlen werden – unter anderem also meinem eigenen? Denn sehen Sie, verehrtes fehlendes Publikum, ein im Hof fehlender Kopf kommt möglicherweise der Aufforderung gleich, sich diesen aufzusetzen und zu erfinden. Aber ich werde meinen Kopf nicht erfinden, ich werde meinen Kopf für anderes verwenden. Mich bestürzt der Umstand, dass ich nur mit eigenen Worten wiederholen kann, was schon gesagt worden ist, keineswegs. Ich verspüre nicht das geringste Verlangen, durch Originalität zu glänzen und Aufmerksamkeit durch noch nie da gewesene Kreativität zu erregen. Ich weiß, dass der Tag kommen wird, an dem Frau Professor Stein mich einen Hochbegabten nennt, einen zum Denken und zur Forschung von jeher Berufenen. Und nichts weiter werde ich dafür tun müssen als zu reden, zu reden, und durch meine
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