König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
wunderbaren Worte das Ende hinauszuzögern, die bedrängende Erkenntnis, dass es mir an Größe ebenso fehlt wie Frau Professor Stein, die in ihrem Zimmer ihr Babel mit einem Rotstift durchstreicht. Was ist Größe? Was Wahrheit? Ich bitte die Fliegen, ihren zielstrebigen Flug zum klebrigen Papier nicht einen Augenblick von solch lächerlichen Fragen, wie nur jene Denker sie stellen konnten, über die unser Wissen, dass andere vor uns, ja, sie selbst, es besser gewusst haben, längst hinaus gekommen ist, unterbrechen zu lassen. Verstehen Sie mich richtig, Herr Professor Icks? Lina, verstehst du mich? Verstehst du mich?« Justin setzt sich und sinkt in sich zusammen, dass ich nur noch seine Schultern zucken sehe.
Ich zeichne in mein Notizbuch eine lange, gedeckte Tafel, eine Karaffe mit Rotwein, eine Menge Gläser. Den Vorsitz hat Justin inne, er trägt eine Krone aus Fliegenpapier und prostet Frau Professor Stein zu, die auf ihren Teller stiert, als ob niemand sonst im Raum wäre. Ich bin der Mundschenk und laufe zu ihr und fülle Wein in ihr Glas, damit sie erkennt, dass sie gar nicht allein ist. So wenig allein, wie die Tulpen hier im Hof, mit den immer noch geschlossenen Blättern? Ich stehe auf, strecke meine Arme weit über meinen Kopf gegen den Himmel, sodass die Hände sich fast berühren, und mache mir gar nichts mehr aus dem Eindruck, den mein plötzliches Aufstehen auf die andern womöglich macht. Auf Flora? Aber Flora kann mich nicht sehen, denn sie klopft an Professor Steins Tür und fragt, ob sie Hilfe brauche, zum Beispiel beim Tragen der Bücher von der Bibliothek ins Büro. Professor Icks vielleicht? Aber Professor Icks lacht und lacht, er klopft sich beinah auf die Schenkel vor Lachen über Justins Vortrag, ein Gelächter, wie ich es einmal im Theater hörte, von einem Schauspieler, der einen Doktor, einen medizinischen Menschenerforscher, spielte: Kam sein Experiment, sein Proband, leibhaftig zu ihm, fragte er ihn sogleich, ob er auch wirklich nur Erbsen, nichts anderes als Erbsen gegessen habe, und antwortete ihm sein Gegenüber, ein Mensch, der gewiss nicht an einem Institut für Gedankenkunde und Verstehen ausgebildet worden war, mit etwas mehr Wörtern als »Ja« und »Nein«, ermahnte ihn der Doktor, sofort mit dem Philosophieren aufzuhören, es stünde ihm nicht gut und wäre gefährlich für ihn. »Lina Lorbeer! So in Gedanken hier zu sitzen! Ihre Kontemplation in Ehren, aber sehen Sie sich denn nie im Spiegel an? Wie blass Sie sind?« Professor Icks hält seine Hand unter einen Wasserstrahl des Brunnens und besprengt die geschlossenen Blüten der Tulpen. Bestimmt würde der Reisende vor der Linde, wenn er nur schon hier angekommen wäre, mir zuzwinkern und ins Ohr flüstern, dass ich mir aus allem nichts und gar nichts machen solle, es kämen andere Tage. Tage, an denen Herr Professor Icks nicht so schnell wie reine Einbildung auftaucht und wieder verschwindet? Tage, an denen Professor Stein bei Justins Worten aufhorcht? Tage, an denen Floras Zittern unbändige Kraft wird? Tage, an denen ich mit leichten Schultern aus dem Hof auf die Straße trete, so namenlos wie im Hörsaal, ein freier Geist, eine Schwärmerin wie aus einer andern Zeit? Aber wie fremd ich mir werden muss bis dahin.
Und dabei wäre es leicht und schön, einfach nur das Fenster zu öffnen und gerufen zu werden wie die Frau im Bild, und hinauszugehen und in ein – wenn auch stilles und stummes – Gespräch verwickelt zu werden, das mir einen Gedanken schenkt, mit dem ich Herrn Professor Icks erstaunen könnte. Habe ich mir nicht immer vorgestellt, es müsse Glück sein, einen Augenblick Verwunderung zu teilen? Ich höre das Klappern hoher Absätze auf dem Asphalt, eine schnatternde Stimme und den hellen Klang aneinander schlagender Gläser. Und all die Geräusche, so will es meine Phantasie, tragen die Worte des Reisenden zu mir, der als einziger unter vielen andern nicht mit den Fingern über mein Gesicht gestrichen sein wird, in großer Freude über meine Unscheinbarkeit: Lina Lorbeer, stellen Sie sich vor, diese Welt hier hat Sie schon erwartet, aber hören Sie auf zu fragen, wozu. Hören Sie auf zu fragen, ob Sie hier richtig sind. Vielleicht sind Sie überall richtig und falsch, also nirgends Ihrer selbst ganz sicher. Verstehen Sie? Ja, es kann sein, Sie gehen in die Bibliothek und ins Büro von Herrn Professor Icks, und angesichts der Bilder an der Wand, der vielen Bücher in den Regalen, der unzähligen Sätze auf
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