König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
hin, fast in mein Zimmer hinein. Und gleich wird sie, ehe sie sich zu Bett legt, vor den großen, matten Spiegel in ihrem Zimmereck treten und flüsternd Niemanden darum bitten, aus allen prüfenden Blicken für immer entlassen zu werden. Wie denn ein Vogel werden, der von hohen Ästen oder niedrigen Fensterbänken in andere Zimmer hineinzwitschert, wenn fremde Augen mich sogar beim Nichtssagen erforschen? Stellen Sie sich vor (die Person in der Wohnung von drüben spricht immer noch zu einem Spiegel mit matten Scheiben), egal in welches Zimmer Sie steigen, überall kommt Ihnen wenigstens für ein paar Minuten pro Tag die Wirklichkeit entgegen und macht Ihnen die verführerischsten Angebote: Mögen Sie meine kleine Komplizin werden? Mein Mundschenk? Und Babel für immer beruhigen? (Schon streicht die Wirklichkeit um Sie herum, um Sie, die Sie so hübsche Fragen stellen können, und erinnert Sie in der Geschmeidigkeit ihrer Schritte und Gesten ganz an die Raubtiere Ihrer finstersten Träume.) Meine Güte, die Bücher kann man sich zur Not auch selber tragen, aber – tiefer blicken , genauer hinschauen, mehr entdecken –. Deshalb müssen Sie doch nicht gleich so düstere Falten in Ihre Stirn graben, Lina Lorbeer, holen Sie tief Luft, von der Luft ist genug für uns alle da. Und Frau Professor Stein lacht und lacht und lacht, lacht so laut, dass der Spiegel schon fast in tausend Teile zersplittert und sich meine Füße tastend durch Scherben hindurch den Weg ins Bett bahnen, wo ich schlafe, lange, lange schlafe, und sogar noch im Traum wie schlafwandelnd durch unendlich sich verzweigende Korridore schwirre, um auf allen Schreibtischen in den unzähligen Büros der Professorenschaft ein Buch abzulegen, ein einziges, und überall das Gleiche. Wie wird Herr Professor Icks bei der Lektüre meiner Widmung staunen: Auf dass der Moderator für immer seinen Text vergisst und der Narr dem König treu bleibt, wenn er sich in dunkler Nacht verirrt und sein Taschentuch vors Gesicht hält und durch die Luft schwenkt, als ob jemand da wäre, der hinschaut.
Ach, Dummheit! Herr Professor Icks wird mich missverstehen und denken, ich wolle das Institut für Gedankenkunde und Verstehen in der Welt anschwärzen, nur weil es mir offenbar an allen Geistesgaben mangelt, die benötigt, wer hier fest auf einem Stuhl sitzen will. Wie soll er wissen, dass ich mich zuweilen sogar ohne Flora und Justin in den Hörsaal und gewissermaßen in meine eigene Zukunft schwindle, um auszuprobieren, wie ich mich da vorne ausnehme. Der große, leere Raum mit den vielen Sesselreihen wird mir, wie Justin, zu einer Bühne, und ich verwandle mich in einen verhinderten Vagabunden, dem beinah bewusst ist, was er mit fester Stimme sagt: Ich möchte heute zu Ihnen über mein Lieblingsthema sprechen, und zwar über das Bangen und Wünschen und Sehnen , das Streunen durch fremde Zimmer . Vernehme ich da aus der ersten Reihe ein Kichern? Ruft da einer von ganz hinten etwa NEIN herunter, DAS WOLLEN WIR NICHT. Sie vergessen, sehr verehrte Hörerinnen und Hörer, dass ich der Hofnarr bin, ein künftiger Freigeist, der heute, hier und jetzt, sagen kann, was ihm die geschwätzige Luft, von der hier mehr als genug für uns alle da ist, zuraunt. Denn mein Souffleur und König über alles hat sich im Wald oder in der Wüste oder unten im Hof verirrt und will mich nicht wieder erkennen. Das öffnet meine Ohren bis ins Innerste! Sie können sich doch, wenigstens im Finstern, an solche Zustände erinnern? Man läuft, quasi geblendet, durch die Welt und hofft, dass einem Erlösung zuteil werde durch einen Verrückten, der einem, noch in der größten Ferne, nicht von der Seite weicht. Aber man hofft das natürlich gar nicht, man zittert geradezu bei einer solchen Vorstellung, man zittert und zürnt und herrscht die Bäume an, die einem den Weg säumen, was sie sich erlauben, immer noch aus der Erde zu wachsen und ihre Äste dem Himmel entgegenzustrecken? Eine derart veraltete Gebärde! Und bringt nichts ein, zischen Sie da von rechts außen, Frau Professor Stein habe gesagt, so in der Welt sich zu verirren, so sich zu öffnen und aus seiner Rolle zu fallen, bringe nichts ein? Wir seien nun einmal nicht im Theater! Im wirklichen Leben sind wir, und da bläst ein anderer Wind, ein außerordentlich kalter. Und der zwingt Sie jetzt zum Schreibtisch und heißt Sie den Einführungsvortrag vorzubereiten, mit dem Sie morgen Abend den Dichter und Denker an Ihrer Seite dem Publikum ganz
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