Königin für neun Tage
Königin zu machen, beteiligt gewesen waren. Die Londoner Henker hatten so viel zu tun wie niemals zuvor.
Menschenmassen säumten die Straßen, als der Karren zur Hinrichtungsstätte nach Smithfield rumpelte. Antonia hob weder den Kopf noch reagierte sie, als ihr Schimpfwörter, faules Obst und sonstiger Abfall um die Ohren flogen. Sie war völlig apathisch, als beträfe alles, was hier geschah, nicht sie, sondern eine Person, mit der sie nichts zu tun hatte. Erst als zwei kräftige Männer sie vom Karren zogen, die Stufen zur Plattform hinauf stießen und Antonia in der Mitte der Strohballen den Pfosten erkannte, wurde ihr mit aller Deutlichkeit bewusst, dass die letzten Minuten ihres Lebens angebrochen waren. Sie sah den vermummten Henker, der bereits ein Hanfseil in den Händen trug, und zwei Fackelträger, die auf den Befehl warteten, das Stroh zu entzünden. Unterhalb der Plattform entstand Tumult, die Menschen drängten und schubsten. Jeder wollte so nah wie möglich das Schauspiel miterleben, wie eine Verräterin und Ketzerin hingerichtet wurde. Plötzlich presste sich eine Gestalt mit langen, verfilzten Haaren und einem grauen, ungepflegten Bart von hinten an Antonia heran. Sofort wurde er von den Wachen fort gezerrt, doch Antonia hatte seine Worte: »Ich hoffe, du kannst immer noch wie der Teufel reiten«, gehört. Ihr Kopf ruckte hoch, suchend ließ sie den Blick über die Menge gleiten, aber der seltsame Alte war verschwunden.
»Willst du niederknien und dein letztes Gebet sprechen?«, fragte der Priester, der Antonia bereits im Kerker aufgesucht hatte. Seine Augen blickten sie nicht an und seine Haltung drückte aus, dass er jedes Wort an sie für Verschwendung hielt.
Antonia ließ sich langsam auf die Knie sinken und faltete die Hände. Als sie plötzlich das Seil spürte, das von hinten um ihren Hals gelegt wurde, schnappte sie verzweifelt nach Luft. Dann ging alles so schnell, dass Antonia keine Zeit mehr zum Denken blieb. Ein Pfeil schwirrte an ihrem Kopf vorbei, traf den Henker mitten ins Herz, und sofort lockerte sich der Zug des Seils. Im nächsten Augenblick tauchten zwei Pferde vor der Plattform auf, auf dem einem saß der alte Mann und schrie: »Sitz auf!«
Mit einem gewagten Sprung landete Antonia auf dem Rücken des zweiten Pferds, das sofort mit weit ausholenden Schritten durch die Menge galoppierte. Antonia registrierte noch, dass der eine oder andere Zuschauer, der nicht rechtzeitig zur Seite sprang, von den Hufen verletzt wurde und blutend zu Boden stürzte, aber es war ihr gleichgültig. Der Alte vor ihr trieb sein Ross ebenso unnachgiebig an wie sie ihres. In halsbrecherischem Tempo folgte sie ihm durch die verwinkelten Gassen der Stadt, bis sie die London Bridge erreichten. Nun mussten sie ihre Pferde zügeln, denn auf der Brücke herrschte ein solch dichtes Treiben, dass ein Durchkommen nur langsam möglich war.
»Da vorne sind sie! Ergreift sie!«, brüllte es hinter ihnen. Antonia wagte einen Blick zurück und sah einen Trupp berittener Soldaten, die sie unbarmherzig jagten. Kurz gelang es ihnen, im Gewühl auf der Brücke unterzutauchen, dann lenkte der Fremde sein Pferd in die Gassen nach Southwark hinein. Antonia hatte keine Ahnung, wer der Alte war oder was er mit ihr vorhatte, es war ihr auch egal, denn was immer er mit ihr machen würde, es konnte auf keinen Fall schlimmer sein als der Tod auf dem Scheiterhaufen. Plötzlich hielten sie vor einem Gasthof, behände und keinesfalls seinem Aussehen entsprechend, saß der Mann ab, zog Antonia mit einer Hand aus dem Sattel und stieß sie durch die Tür, die wie von Geisterhand geöffnet worden war. Die Pferde erhielten mit der Peitsche einen Schlag auf ihr Hinterteil, dass sie laut aufwieherten und tiefer in die Gasse hinein galoppierten. Keuchend lehnte Antonia von innen an der Tür, neben ihr der Fremde, und gemeinsam lauschten sie den vorbei galoppierenden Pferden der Soldaten nach.
»Es wird einige Zeit dauern, bis sie merken, dass wir nicht mehr drauf sitzen«, sagte der Fremde, und Antonia merkte zum ersten Mal, dass ihr seine Stimme vertraut vorkam. Sie standen in einem langen, dunklen Flur, an dessen Ende jetzt eine weitere Tür geöffnet wurde. Der Mann ergriff Antonias Hand und zog sie in den Raum. Überrascht sah sich Antonia um. Von außen hatte das Haus einen heruntergekommenen, schäbigen Eindruck gemacht, jetzt befand sie sich jedoch in einem großen Zimmer, das mit roten, samtgepolsterten Sofas und Stühlen
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