Königin für neun Tage
richtige Zeitpunkt noch der Ort für eine Moralpredigt, Antonia.« Langsam steckte er den Beutel ein, dann küsste er Alice mitten auf den Mund. »Hab Dank für alles. Irgendwann wird die Zeit kommen, und ich kann es dir vergelten.«
Zuerst wollte sich Antonia zornig abwenden, als die Hure sie umarmte und drückte, dann sagte sie sich, dass diese Frau ihr eigenes Leben riskierte, um das einer Frau zu retten, die sie nicht einmal kannte. Darum sagte sie: »Auch ich möchte Euch danken. Ich weiß nicht, warum und wieso Ihr das tut, aber …«
»Scht! Ihr müsst jetzt gehen«, antwortete Alice. »Norman, pass gut auf dich auf, ja?«
Er nickte, dann führte Alice sie zu einer Hintertür, durch die sie in einen schmutzigen Innenhof und von dort auf eine Gasse traten. Hier war von Soldaten oder Wachen weit und breit nichts zu sehen. Norman schritt mit so großen Schritten aus, dass Antonia Mühe hatte, ihm zu folgen.
»Sir Norman, was ist mit meinem Vater?«, keuchte sie.
Norman blieb stehen, wandte sich zur ihr um legte beide Hände auf ihre Schultern. »Es tut mir leid, ich konnte nichts mehr für ihn tun. Aber er starb in Würde.«
Antonia schluckte und blieb stehen. Trotz allem, was Thomas Fenton ihr angetan hatte, verspürte sie Trauer um ihn. Wenigstens hatte er sich in seinen letzten Stunden seiner Tochter gegenüber wie ein Vater verhalten und sogar einen Versuch gemacht, sie zu retten.
»Nun komm schon!«, drängte Norman. »Weinen kannst du später.«
»Ich weine nicht«, murmelte Antonia, fühlte jedoch, wie ihre Augen feucht wurden. Nie hätte sie gedacht, dass der Verlust ihres Vaters sie schmerzen würde.
Norman hielt auf das südliche Stadttor zu, dessen Fallgitter geschlossen war. Davor patrouillierte eine Wache.
Norman legte seinen rechten Arm um Antonia. »Jetzt beginnt das Spiel!«
Als der Wachmann die beiden Gestalten auf sich zukommen sah, zog er sein Schwert und rief: »Halt! Hier kommt ihr nicht durch!«
»Ich muss aber unbedingt nach Hause, guter Mann«, sagte Norman scheinbar unbeteiligt.
Die Wache schüttelte den Kopf. »Ich habe strikte Befehle, die Tore geschlossen zu halten. Niemand darf die Stadt betreten oder verlassen.«
»Was ist geschehen?«
Antonia bewunderte Norman, der es fertig brachte, seine Stimme vollkommen unschuldig klingen zu lassen. Sie selbst hatte große Mühe, ihr Zittern zu verbergen.
»Ein alter Mann hat ein Mädchen, das als Ketzerin verbrannt werden sollte, befreit. Jetzt wird in der ganzen Stadt nach den beiden gesucht.«
Norman lachte erleichtert. »Sehe ich etwa wie ein alter Mann und mein kleiner Bruder wie in junges Mädchen aus?«
»Nein, sicher nicht«, gab der Wachmann unsicher zu. »Trotzdem darf ich nicht … Außerdem scheint Euer Bruder sich nicht wohl zu fühlen. Was fehlt ihm denn?«
Norman winkte die Wache mit der linken Hand näher an sich heran, wobei er die Finger der rechten stärker in Antonias Schulter bohrte. »Der Kleine hat sich in gewissen Etablissements herumgetrieben, wollte mal wissen, wie das so ist. Na, Ihr wisst schon …«
Der Wachmann nickte verstehend, dann rümpfte er die Nase. »Puh! Hat er dabei in Wein gebadet?«
»So ähnlich, guter Mann. Es war sein erstes Mal, Ihr versteht? Da brauchte er ein wenig … sagen wir mal, Hilfe, um den Mut dazu zu finden.« Norman lachte dreckig, der Wachmann stimmte ein. »Nun muss ich ihn so schnell wie möglich nach Hause bringen und dafür sorgen, dass er wieder einigermaßen nüchtern wird, bevor unser Vater von den Feldern heimkommt.«
Der Wachmann zögerte noch immer. »Ich habe meine strikten Befehle. Die Königin …«
»Ihr könnt mir glauben, der Zorn der Königin ist nichts gegen den, den mein Bruder erleben wird, wenn unser Vater ihn in diesem Zustand sieht und erfährt, wo der Kleine die letzte Nacht verbracht hat. Und mich wird seine Wut ebenfalls treffen, denn ich bin für ihn verantwortlich. Seit unsere Mutter vor vier Wochen gestorben ist, kümmere ich mich um meine weiteren neun Geschwister …«
Erstaunt bemerkte Antonia, dass es Norman jetzt sogar gelang, ein paar Tränen aus den Augen zu pressen.
Anscheinend hatte seine Strategie Erfolg.
»Eure Mutter ist erst kürzlich verstorben? Das tut mir Leid, auch ich verlor meine Mutter viel zu früh.« Er gab sich einen Ruck. »Nun gut, ich lasse Euch durch die Seitenpforte, aber passt in Zukunft besser auf Euren Bruder auf, ja?«
Norman versprach, es zu tun, und sie schlüpften durch die kleine Tür. Obwohl jetzt die Stadtmauer hinter
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