Königin für neun Tage
Arm schoss. »Hast du Jane geliebt?«
Norman riss angesichts ihrer direkten Frage verwundert die Augen auf. »Geliebt? Nein, niemals! Ich habe Jane Grey als ein sehr außergewöhnliches Mädchen kennen gelernt, später entwickelte sie sich zu einer hübschen Frau. Wie kommst du auf einen solchen Gedanken? Die Familien der Greys und der Powderhams trennten Welten, niemals wäre eine entsprechende Verbindung möglich gewesen. Und ich habe es auch nie in Betracht gezogen, wusste ich doch, dass Jane Edward liebt.«
Antonia schoss die Röte in die Wangen. »Verzeih, Norman, es geht mich nichts an. Ich musste nur daran denken, dass du damals als ihr Ritter in das Turnier gezogen bist. Das tut ein Mann doch nur, wenn …« Sie brach ab und senkte den Kopf.
Um Normans Mundwinkel zuckte es. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, du bist eifersüchtig. Eifersüchtig auf ein Kind, dem ich einst den Gefallen getan habe, seine Farben zu tragen.«
»Was heißt das, ›wenn du es nicht besser wüsstest‹?« Ehe sich Antonia überlegen konnte, was sie da sagte, waren die Worte auch schon über ihre Lippen.
Norman erhob sich und klopfte sich die Erde von der Hose. Er sah sie nicht an, als er sagte: »Es ist wohl fern jeglicher Realität, dass du irgendwelche … nun, sagen wir mal … Gefühle für mich hegen könntest, die über Freundschaft hinausgehen. Wir beide wissen doch, dass uns nichts verbindet. Wir sind Geächtete und Gejagte, haben ein gemeinsames Ziel, aber, Antonia, ich habe nie eine Frau in dir gesehen. Wenn ich dich so ansehe, ist mir, als sei der Knappe Anthony zurückgekehrt.«
»Warum hast du mich dann an Janes Hochzeit geküsst?«
»Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Und ich habe mich bereits dafür bei dir entschuldigt.«
Schnell drehte Antonia den Kopf zur Seite. Norman sollte nicht sehen, wie sehr seine Worten sie erneut verletzten. Sie schluckte mehrmals, und es gelang ihr, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, doch ihre Stimme klang belegt, als sie sagte: »Wie soll es weitergehen, wenn wir Schottland erreicht haben?«
»Wir müssen abwarten, wie mein Großonkel uns aufnimmt. Wahrscheinlich werden wir arbeiten müssen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Schottland ist ein armes und karges Land, ich habe keine Ahnung, was uns dort erwartet.«
»Und Schottland ist ein katholisches Land«, gab Antonia zu bedenken. »Kommen wir nicht vom Regen in die Traufe? Wird sich Schottland nicht mit Königin Mary verbünden, und werden wir dort nicht auch in Gefahr schweben?«
»Mary hat einen Feldzug gegen den reformierten Glauben geschworen, warum sollte sie sich um Schottland kümmern?«, beruhigte sie Norman. »Außerdem leben die Clanoberhäupter wie in eigenen Königreichen. Sie lassen sich von niemandem etwas vorschreiben, nicht einmal von der eigenen Königin.«
Mary Stuart war im Alter von nur sieben Tagen Königin von Schottland geworden. Seit Jahren lebte sie schon in Frankreich, wo sie mit dem Dauphin verlobt worden war, den sie, sobald die beiden Kinder alt genug wären, heiraten sollte. An Marys Stelle regierte der Herzog von Arran, der sich in ständigem Streit mit Marys in Schottland lebender Mutter befand. Obwohl Mary Tudor jetzt alles daran setzte, England wieder zu einem papsttreuen katholischen Land zu machen, gab es zwischen England und Schottland keine Verbindung.
»Werden wir Schottland jemals erreichen?«, fragte Antonia. Dabei sah sie Norman so vertrauensvoll an, dass es ihm warm ums Herz wurde. Auf einmal hatte Antonia keine Ähnlichkeit mehr mit dem jungen Mann, der erst vor wenigen Stunden einen Wachmann getötet hatte. Nein, Norman blickte in die Augen einer Frau, die seinen Beschützerinstinkt rührte. Doch sofort kehrte die Erinnerung an den Knappen Anthony zurück, und er knirschte mit den Zähnen. Damals, als sie ihm auf dem Weg nach Hampton Court im Kampf zur Seite gestanden hatte, war er sehr stolz auf sie gewesen. Nein, nicht auf sie, sondern auf einen jungen Mann, der sich mutig geschlagen hatte. Jetzt aber hatte ihn eine Frau vor dem sicheren Tod gerettet, und obwohl er allen Grund hatte, auch dieses Mal auf Antonia stolz zu sein, verspürte er Ärger über ihr Verhalten.
»Wahrscheinlich wäre es mir lieber gewesen, getötet zu werden, als von einer Frau befreit zu werden«, murmelte er und wunderte sich nicht über seinen Zynismus. Die ganze Welt, die Norman kannte und liebte, war im Begriff, um ihn herum einzustürzen, und er konnte nichts
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