Königin für neun Tage
Höflinge besaßen Residenzen in der Stadt oder in der nahen Umgebung und wohnten nicht im Palast. Antonia war erleichtert, zu erfahren, dass sich ihr Vater in seinem Stadthaus aufhielt. Das verringerte die Möglichkeit eines Zusammentreffens mit ihm. Sir Norman wohnte in Whitehall, aber seine Räume lagen weit von den Gemächern der Königin entfernt. Auch wenn sich sein Zimmer direkt neben dem Antonias befunden hätte – er war ihr so fern wie der Mond der Erde.
In Whitehall rückte Antonia mehr und mehr in den engeren Kreis der Damen um die Königin vor. Da sich ihr Vater von ihr losgesagt hatte, wurde ihr der Status einer Hofdame nicht offiziell zugestanden, dennoch verbrachte Antonia die meiste Zeit in der Nähe von Königin Catherine. Da Beth inzwischen eingesehen hatte, dass Antonias Stärken im Bereich von Literatur und Musik lagen, musste sie sich nicht länger mit Nadel und Faden abmühen, sondern las der Königin vor oder musizierte mit ihr zusammen. Es war ein eintöniges Leben, zumal das zunehmend schlechtere Wetter es immer seltener möglich machte, in den Gärten zu spazieren. Manchmal fürchtete Antonia, in den engen Wänden verrückt zu werden. Gleichgültig, ob es regnete oder stürmte, sie sehnte sich danach, frei und unbeschwert über Wiesen und Felder zu galoppieren und wieder ein Schwert zu führen. Aber all das war ihr jetzt auf immer und ewig verboten. Ihr Haar begann zu wachsen und sich über den Ohren zu kringeln, die mit gestickten Borten besetzten Kleider brachten zwar ihre Figur vorteilhaft zur Geltung, dennoch fand sie wenig Gefallen am Leben als Frau. Nur die Literatur-, Latein-und Musikstunden machten ihr Freude. Wenn ihre Unzufriedenheit Oberhand zu gewinnen drohte, sagte sich Antonia, dass sie wahrlich ein schlimmeres Schicksal hätte erleiden können. Ohne den Schutz der Königin würde sie jetzt irgendwo in einem Kerker schmachten, vielleicht sogar schon tot sein. Gott hatte sie als Mädchen auf diese Welt geschickt, also musste sie das Beste daraus machen.An einem Nachmittag las sie zusammen mit der Königin in den Schriften von Erasmus, und sie diskutierten über seine Lehren. Catherine bekannte sich offen zur Reformation. Das war dem König seit Monaten ein Dorn im Auge, er unternahm aber nichts dagegen. Henry hatte sich zwar von Rom losgesagt und leugnete den Papst als Oberhaupt der Kirche, hielt aber sonst an den Sitten und Gebräuchen des katholischen Glaubens und der Durchführung der Messe fest. Erasmus ging jedoch einen Schritt weiter – in zahlreichen Schriften prangerte er die kirchlichen Missstände der Habgier und Völlerei und die abergläubischen Überzeugungen an. Seine Schriften waren vom Papst verboten worden, und auf dem Festland riskierte man sein Leben, wenn man ein Buch von Erasmus besaß. Obwohl der König die Klöster und Abteien aus ähnlichen wie den von Erasmus angeführten Gründen aufgelöst hatte, gingen ihm die radikalen Lehren von Erasmus zu weit, aber er war zu krank, um seiner Frau Einhalt zu gebieten. Henry, der skrupellos und grausam drei seiner Frauen ins Verderben gestürzt hatte, wollte seine Pflegerin nicht verlieren, so verschloss er seine Ohren gegen die Interventionen des Kronrates, der ihn bedrängte, sich von seiner Frau zu trennen. Catherine wusste, dass sie auf einem schmalen Grat wandelte, aber sie konnte nicht gegen ihre Überzeugung handeln.
Ein Diener schenkte Wein in die Becher, und Antonia nippte an der goldenen Flüssigkeit.
Unvermittelt fragte die Königin: »Bist du mit deinem Leben zufrieden, Antonia? Ich lese in deinem Gesicht, dass dich etwas bedrückt.«
Vor Überraschung verschluckte sich Antonia an dem Wein. Nachdem sie gehustet und sich die Tropfen von den Lippen getupft hatte, antworte sie: »Ich habe alles, was ich brauche, Mylady. Allerdings lässt mich die Sorge um meine Mutter und meine Kinderfrau nachts oft nicht einschlafen. Was mag nur aus ihnen geworden sein?«
Die Königin nickte verständnisvoll. »Leider sind mir in dieser Sache die Hände gebunden. Es steht nicht in meiner Macht, Männer auszusenden, um etwas über das Schicksal deiner Mutter in Erfahrung zu bringen. Würde ich gegen den Wunsch meines Gemahls handeln, dann …«
Sie brauchte nicht weitersprechen, Antonia verstand. Da sie selbst nicht über Geld verfügte, konnte sie keine Männer bestechen und um Hilfe bitten. Erneut stellte Antonia fest, dass Frauen viele Möglichkeiten verwehrt blieben.
Am zehnten Dezember erkrankte der König an
Weitere Kostenlose Bücher